1975
Es war schon immer so und wird wohl auch so bleiben. Das Unerklärliche fasziniert, fordert heraus. In dem Moment, in dem es erklärt, gelöst wird, verliert es schlagartig seine Faszination und wird uninteressant. Don McLean wusste, warum er seinen Liedtext zu American Pie nie erklärt hat. Auch Freddie Mercury, der Musik und Text zu Bohemian Rhapsody schrieb, ließ sich nie zu mehr hinreißen als zu der Bemerkung, der Song sei "persönlich, über Beziehungen". Er wusste warum. Bis heute zerbrechen sich die Menschen den Kopf, und versuchen die Zeilen zu interpretieren, mit Sinn zu füllen. Wahrscheinlich vergeblich, denn Freddie Mercury kann zur Aufklärung bekanntlich ja nichts mehr beitragen, er starb 1991 an AIDS. Und würde wohl auch nicht, wenn er noch lebte. Es sei denn, die restlichen Queen-Musiker brächen ihr Schweigen...
Dabei fasziniert das Musikalische genauso an Bohemian Rhapsody, denn vor allem der Mittelteil der sechsminütigen Aufnahme ist in seiner Gestaltung in der Pop- oder Rockmusik einzigartig. Schon Freddie Mercury hat ihn selbst als „opera section“ bezeichnet. (1) Doch es ist nicht nur die opernhafte Gestaltung, die beeindruckt, sondern auch die für damalige Verhältnisse ungeheuer zeit- und arbeitsintensive und aufwändige technische Umsetzung des musikalischen Materials.
Im Sommer 1975 beginnen die Musiker von Queen und ihr Produzent Roy Thomas Baker Bohemian Rhapsody im Studio aufzunehmen. Der Song besteht aus einer Aneinanderreihung völlig verschiedener Abschnitte, die in insgesamt vier verschiedenen Aufnahmestudios realisiert werden. Dabei nimmt schon angesprochene opernhafte Mittelteil, der anfangs nur als kurzes Intermezzo geplant war, eine Art Eigendynamik an, die ihn immer umfangreicher werden lässt. Am Ende nehmen die Aufnahmesessions für den Mittelteil alleine drei Wochen in Anspruch. (2)
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Wie genau die Vokalparts des Mittelteils aufgenommen wurden, ist nicht vollständig nachzuvollziehen. Fest steht jedenfalls, dass hier mit großangelegtem Overdubbing gearbeitet wurde. Das heißt, dass die gleiche Stelle immer und immer wieder mit einer neuen Spur überspielt wurde. Aufgrund der beschränkten Verfügbarkeit von Spuren mussten dafür immer wieder mehrere Spuren auf eine Spur eingedampft werden, um Kapazitäten für neue Spuren zu kreieren. Somit ist auch nicht mehr nachzuvollziehen, wer die einzelnen Vokalspuren eingesungen hat. Während zu lesen ist, Freddie Mercury hätte alles im Alleingang eingesungen, stammen die hohen Falsetttöne wohl von Roger Taylor. Insgesamt sind wohl bis zu 180 Vokalparts als Overdubs übereinandergelegt worden - eine musikalische wie technische Meisterleistung.
Heraus kommt ein Werk, das mit fast sechs Minuten Länge deutlich die zeitliche Limitierung damaliger Singles sprengt. Musiker wie Produzent sind jedoch von den Qualitäten des Songs so überzeugt, dass sie diesen unbedingt als Single auskoppeln wollen. Sie stoßen damit jedoch bei den Verantwortlichen der Plattenfirma EMI auf Granit: Eine Single mit mehr als dreieinhalb Minuten Spielzeit - undenkbar, dass ein Song dieser Länge im Radio gespielt würde. Somit wird die Singleauskopplung abgelehnt. Queen und Baker verfallen auf die Idee, sich Unterstützung von außen zu holen und lancieren den Song beim Radio-Moderator Kenny Everett vom Capitol Radio, das neben dem Aufnahmestudio beheimatet ist. Offiziell bekommt Everett die Anweisung, den Song nicht zu spielen, inoffiziell soll er jedoch genau dies tun.
Und der Plan geht auf. Am nächsten Morgen spielt Everett den Anfang mit der Bemerkung, dass er ihn nicht noch einmal spielen könne, weil er es versprochen habe (3), um einige Zeit später dann doch noch mehr laufen zu lassen. Nachdem die Reaktionen überschwänglich sind, spielt er Bohemian Rhapsody insgesamt 14 Mal an einem Wochenende. Montags stürmen die Hörer die Plattenläden, nur um zu erfahren, dass sie die Aufnahme nicht kaufen können. Queen und Baker bekommen zwar anfänglich Ärger wegen der Herausgabe des Tonbandes, die Plattenfirma muss dem großen öffentlichen Druck jedoch nachgeben und die Single doch noch pressen. Das Ergebnis ist bekannt. Bohemian Rhapsody hält sich wochenlang auf Platz eins der Hitparaden.
Doch worum geht es nun eigentlich in Bohemian Rhapsody? Dazu gibt es, wie oben schon erwähnt, keine gesicherten Fakten. Gewisse autobiographische Bezüge hat Freddie Mercury aber sicher verarbeitet, wie seine Bandkollegen bei verschiedenen Anlässen bestätigten. Aber manches dürfte einfach auch von Anfang an keinen Sinn ergeben haben, wie die teils exotischen Wörter, die im Opernteil verwendet werden. Möglicherweise wurden sie nur wegen ihres Klanges ausgewählt:
Interessant ist dann noch eine Theorie, die besagt, dass der 1942 erschienene Roman Der Fremde von Albert Camus erstaunliche Parallelen in der Handlung zum Text von Bohemian Rhapsody aufweist. Sollte Freddie Mercury von diesem Werk inspiriert worden sein? Wir wissen es nicht. Und werden es wohl auch nie erfahren.
(1) Cunningham, Mark. Roy Thomas Baker & Gary Langan: The Making Of Queen's 'Bohemian Rhapsody'. An Interview.
Oktober, 1995.
https://web.archive.org/web/20150912000231/http://www.soundonsound.com/sos/1995_articles/oct95/queen.html.
Abgerufen am 9.2.2020.
(2) ebda.
(3) ebda.
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