US3: Cantaloop (Flip Fantasia)

"Groovy, groovy, jazzy, funky...": ein HipHop-Stück mit einer Vergangenheit bis weit in die Geschichte des Jazz

Am Tag vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1939, gründen zwei aus Berlin stammende jüdische Immigranten, Alfred Lion und Frank Wolff, in den USA die Plattenfirma "Blue Note Records". Sie wird in den 1950er und 1960er Jahren die führenden Musiker des modernen Jazz, vor allem des Hardbop unter Vertrag haben. Durch konsequente nichtkommerzielle Ausrichtung, aufnahmetechnische Qualität, Experimentierfreudigkeit und künstlerische Durchdachtheit bis hin zum heute legendären Design der Schallplattencovers erreicht das Label innerhalb weniger Jahre Kultstatus. Erst Ende der 1960er muss sich das Unternehmen dem Druck durch die Kommerzialisierung beugen.

Im Jahr 1949 wird in New York am Broadway ein Jazzclub mit dem Namen "Birdland" eröffnet. Benannt ist er nach dem einflussreichsten Altsaxofonisten der Jazzgeschichte, Charlie Parker, auch unter seinem Spitznamen "bird" bekannt. Er war einer der schwarzen Jazzmusiker, die den Bebop entwickelten, einen Jazzstil im New York der frühen 40er Jahre. Das "Birdland" erwirbt sich schnell einen Ruf als angesagter Jazzclub und ist heute noch zu besuchen.


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Am 21. Februar 1954 ist der Hardbopschlagzeuger Art Blakey mit seinem Quintett im Birdland zu Gast. Das Konzert, das die Musiker geben, wird von Blue Note mitgeschnitten und als Platte unter dem Titel A Night at Birdland Vol. 1 veröffentlicht.

Eingeleitet wird das Konzert, wie im Birdland üblich, vom Ansager. Das ist Pee Wee Marquette, kleinwüchsig und mit einer etwas schnarrenden Stimme ausgestattet. Er sagt an diesem Abend das folgende:

"Ladies and gentlemen, as you know we have something special down here at Birdland this evening... a recording for Blue Note records... when you applaud for the different passages, your hands go right out over the records there, so when they play them over and over, throughout over the country, you may be some place and say, well, uh, that's my hand on those records there, that I dug down at Birdland... We're bringing back to the bandstand at this time, ladies and gentlemen, the great Art Blakey and his wonderful group featuring the new trumpet sensation Clifford Brown, Horace Silver on piano, Lou Donaldson on alto, Curley Russell is on bass... Let's get together and bring Art Blakey to the bandstand with a great big round of applause here, how about a big hand here for Art Blakey! Thaank yaoow!" (1)

1964 macht der Jazzpianist Herbie Hancock in New Jersey Aufnahmen für seine neueste Schallplatte. Sie erscheint bei Blue Note Records und trägt den Titel Empyrean Isles. Bei den eingespielten Titeln ist auch Hancocks Komposition Cantaloupe Island.

Anfang der 90er Jahre plant der Musikproduzent Geoff Wilkinson sein neues Projekt. Er benutzt dazu das in den 80er Jahren entwickelte Verfahren des Sampling. Es bezeichnet das Umwandeln von Audiodaten in digitale Daten. Dies geschieht am Anfang mit sogenannten Samplern, heutzutage mit Sampling-Software über den Computer. Das Besondere ist die Bearbeitbarkeit und Veränderbarkeit dieser Daten. Auch können bestimmte Elemente einer Aufnahme isoliert werden, oder Klänge ersetzt werden.

1992 erscheint die Single Cantaloop der Band US3, deren kreativer Kopf genau dieser Geoff Wilkinson ist. Er hatte Zutritt zu den Archiven der Firma Blue Note Records bekommen und außerdem die Erlaubnis, von den alten Mehrspurbändern Samples zu erstellen. Das Ergebnis ist sowohl auf der Single Cantaloop als auch auf der im Jahr darauf erschienenen CD Hand on the Torch zu hören.

Wilkinson hat für Cantaloop sowohl Teile der Ansage Pee Wee Marquettes aus dem Jahr 1954, als auch Teile des Klavierparts von Herbie Hancocks Aufnahme aus dem Jahr 1964 gesamplet. Kombiniert mit neu aufgenommenen Instrumentalparts, Rap-Passagen und Drum'n'Bass-Sounds aus dem Computer ergibt dies eine Mischung, die kreativ ist, gut ankommt, und einen Trend losstartet, bei dem Jazzeinflüsse im HipHop immer häufiger verwendet werden. Das geschieht im Übrigen mit der Erlaubnis von Herbie Hancock, denn durch das Urheberrecht dürfen Samples nicht kostenfrei verwendet werden. Herbie Hancock verdient also bei jeder verkauften US3-CD mit.

Der "..loop", der im originalen Songtitel Hancocks noch ein "..loupe" war, ist ein Anspielung auf eine im HipHop oft verwendete Technik. "Loop" bedeutet Schleife, was musikalisch bedeutet, dass ein kleiner musikalischer Abschnitt wie in einer Endlosschleife immer wiederholt wird und somit Grundlage des ganzen Songs ist.

(1) Blakey, Art. A Night at Birdland Vol. 1. Blue Note Records, 1954.

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Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.