James Brown: Cold Sweat

Der Meilenstein in der Entwicklung des Funk und seine Bezüge zum modalen Jazz

Als der Jazztrompeter Miles Davis im März 1959 das Studio von Columbia Records in der 30sten Straße in New York betrat, um das Album Kind of Blue aufzunehmen, hatte er etwas radikal Neues mit seinen Mitmusikern vor. Das Miles Davis Sextett mit Julian "Cannonball" Adderley am Altsaxophon, John Coltrane am Tenorsaxophon, dem Pianisten Bill Evans, Paul Chambers am Kontrabass und Jimmy Cobb am Schlagzeug war damals eine gut eingespielte Truppe, auch wenn Bill Evans recht neu dabei war und als einziger Weißer dabei war, seinen Platz zu finden.

Die 1950er Jahre waren im Jazz ein Jahrzehnt des Aufbruchs und der radikalen Neuentwicklungen. Der hitzige, rasend schnell gespielte und harmonisch wie melodisch äußerst komplexe Bebop der 1940er Jahre hatte seinen Höhepunkt hinter sich und machte nun Platz für den gegensätzlichen Cool Jazz. Dieser war allerdings keine einheitliche Strömung. Neu war in jedem Fall eine Akademisierung des Jazz. Die Musiker wollten wie schon die Bebopper ernst genommen werden und brachen zu neuen künstlerischen Wegen auf - zu den coolen, sanft dahinschwebenden Klängen eines Chet Baker, dem unter anderem mit folkloristischen Elementen und ungeraden Taktarten angereicherten West Coast Jazz eines Dave Brubeck, dem Modern Jazz Quartet, das barocke Stilmittel in den Jazz übertrug, oder den Hardboppern der Ostküste mit ihren Blues- und Gospelrückbezügen - um nur einige zu nennen.


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Doch all diese Neuerungen hatten nicht die grundsätzliche Funktionsweise der Jazzimprovisation in Frage gestellt: der Improvisation über Changes, also über Akkordverbindungen, die jedem Musikstück zugrunde liegen. Für diese Folgen von Akkorden hatten die Jazzmusiker ihre Licks, kurze rhythmisch-melodische Floskeln, oft geübt, die sie je nach Bedarf einsetzten, variierten und daraus ihre Soli aufbauten. Aus dem engen Korsett dieser schon so häufig repetierten Muster wollte Miles Davis ausbrechen und auf diese Weise neue Ausdrucksmöglichkeiten entdecken.

Daher kam Miles Davis an diesem Märztag 1959 mit neuen Kompositionen ins Studio. Teils waren es auch nur Skizzen, die von ihm und Bill Evans im Studio erst direkt vor den Aufnahmen weiter ausgearbeitet wurden. Auf jeden Fall war es neues Material, das dem Sextett noch nicht bekannt war - ein ziemlich ungewöhnliches Verfahren, wenn man ein Studioalbum aufnehmen möchte. Die neuen Stücke waren allerdings nicht komplex, sondern bestanden kompositorisch meist aus wenigen kurzen wiederholten Motiven, sogenannten Riffs. Sie verharrten meist über längere Zeit auf einem Akkord, bzw. einer Tonskala, einem so genannten Modus (daher der Name modaler Jazz). Die Kompositionen konnten also von den versierten Musikern gut umgesetzt werden. Die Herausforderung lag eher in den ungewohnten formalen Abläufen und der neuen Herangehensweise an die Soli, die sich nun melodisch frei entwickeln mussten ohne den Akkorden folgen zu können.

Das so entstandene Album Kind of Blue entpuppte sich sehr bald als Meilenstein in der Entwicklung des Jazz und machte Miles Davis zum Star. Das Album schlug aber nicht nur die Jazzgemeinde in den Bann, sondern faszinierte und beeinflusste Musiker aus vielen anderen Stilrichtungen.

Auch Alfred James Ellis, aufgrund seiner kleinen Statur nur "Pee Wee" genannt, hörte bei Kind of Blue aufmerksam zu. Ellis war ab 1965 Saxophonist und ab 1967 musikalischer Leiter und Arrangeur in der Band von James Brown. Ellis' Background im Jazz und Browns R&B-Wurzeln ergänzten sich kongenial. Brown hatte damals schon begonnen, seinen Stil weiterzuentwickeln und sich mehr auf die Rhythmik zu konzentrieren. Mit Ellis, dem Gitarristen Jimmy Nolen und dem Schlagzeuger Clyde Stubblefield hatte er nun Musiker um sich, die diesen Ansatz musikalisch umsetzen konnten und das rhythmische Spiel mit komplexen, perkussiv gespielten, miteinander verzahnten und ständig wiederholten rhythmischen Patterns auf eine neue Ebene hoben. Eine der ersten Aufnahme im neuen Stil war Cold Sweat, im Jahre 1967 erschienen, und von James Brown und Pee Wee Ellis gemeinsam komponiert. Sie gilt als wegweisend für die weitere Entwicklung des neuen Stils: des Funk.

Wie Ellis in einem Interview mit der Zeitschrift Down Beat (1) bestätigte, ist Cold Sweat stark von Miles Davis' Komposition So What, dem wohl bekanntesten Stück des Albums Kind of Blue beeinflusst. Am deutlichsten ist der Bezug sicherlich in den Bläsern. So übernahm Ellis den originalen, aus zwei Akkorden bestehenden und sich taktweise wiederholenden Bläser-Riff fast eins zu eins. Allerdings kommen bei Cold Sweat beide Akkorde auf dem Beat (Schlag 2 und 3), bei So What hingegen ist der zweite Akkord vorgezogen, also ein Off-Beat.

Ist der Bläser-Riff auf jeden Fall die direkteste Übernahme, gibt es dennoch ein anderes Element, das eine auffallende Ähnlichkeit zum modalen Jazz und im speziellen zu So What besitzt: es ist das lange Verbleiben auf einem Akkord und somit das Fehlen von Akkordwechseln, was im folgenden ein Charakteristikum vieler Funk-Titel werden sollte. (2) Bei Cold Sweat verbleibt der A-Teil über 16 Takte hinweg komplett auf einem D7-Akkord, bevor der B-Teil für weitere 10 Takte einen Ganzton nach unten auf einen C7 rutscht (mit einem F7-Wechselakkord in den Bläsern). Die zweitaktige Bassfigur zieht sich fast unverändert durch beide Teile durch, auch das eine Übereinstimmung mit So What, und bildet so die Klammer, die beide Teile zusammenhält. Auch die Instrumentalsoli bleiben über die ganze Länge hinweg auf einem Akkord stehen.

War das Verbleiben auf einem Akkord (und damit verbunden einer Skala) bei Miles Davis dadurch motiviert, dass eine ruhige, von melodischem Spiel geprägte Atmosphäre entstehen sollte, ist das teils minutenlange Verbleiben auf einem Akkord im Funk eine logische Folge der rhythmisch komplexen Muster, die das konstituierende Element der Musik darstellen und Akkordwechsel im Grunde überflüssig machen. Die Musik wird nicht mehr von den Spannungsverläufen der Akkordwechsel getragen, sondern ausschließlich von der Kraft des Rhythmus.

Auf Cold Sweat ist auch Maceo Parkers Saxophonsolo ein hervorragendes Beispiel für die auf den Rhythmus konzentrierte Herangehensweise. Das Solo besteht mehrheitlich nur aus einzelnen Tönen oder Zweitonphrasen, die perkussiv und akzentuiert vorgetragen werden - von James Brown mit Ausrufen und Kommentaren begleitet. James Browns leidenschaftlicher Gesang reiht sich nahtlos ein, auch hier stehen kurze, instrumental gedachte Phrasen und Ausrufe im Vordergrund. Auch der Schlagzeuger Clyde Stubblefield bekommt konsequenterweise seinen Raum, um den Funk-Groove ohne Beiwerk, nur vom Bass begleitet, in einem angedeuteten Solo in den Vordergrund zu rücken.

Cold Sweat weist somit den Weg in die Funk- und Disco-Ära 1970er Jahre, wo Bands wie die Jacksons das Prinzip konsequent weiterführten und komplette Songs wie zum Beispiel Shake Your Body (Down to the Ground) aus dem Jahr 1978 ausschließlich auf einem einzigen Akkord basierten.

Interessant in diesem Zusammenhang ist noch, dass Miles Davis in seiner letzten musikalischen Wandlung hin zum Jazzrock, den er mit seinem Album Bitches Brew begründete, James Brown als maßgeblichen Einfluss benannte. Somit schließt sich der Kreis.

(1) James Brown's Musicians Reflect On His Legacy. Down Beat. Retrieved February 15, 2007. Zitiert nach: https://en.wikipedia.org/wiki/Cold_Sweat. Abgerufen am 03.03.2023.
(2) Natürlich ist der modale Jazz nicht der Ursprung des Musizierens über ein Bass-Ostinato und eine gleichbleibende Tonskala. Vielmehr lässt sich diese Tradition in vielen Kulturen nachweisen, unter anderem auch in der javanischen Gamelanmusik. Die französischen Musiker des Impressionismus, allen voran Claude Debussy, ließen sich von den Gamelanorchestern inspirieren und schufen Kompositionen mit ähnlicher Anlage. Die Jazzmusiker um Miles Davis kannten die Werke vieler Komponisten der Jahrhundertwerke wie die der Impressionisten, von Igor Stravinsky oder Alban Berg und schätzten diese sehr.

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  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.