1960
Es war im März 1960. Ray Charles war im Aufnahmestudio und sein persönliches Umfeld erklärte ihn mehr oder weniger für verrückt. Man fragte sich ernsthaft, was er da tat. Ob das sein Ernst war, oder ob er vielleicht nicht doch an plötzlicher Geschmacksverirrung litt. Doch Ray Charles meinte es ernst. Ohne Diskussionen.
Der Stein des Anstoßes war das große Streichorchester, das Ray Charles mit ins Boot geholt hatte, um die Songs für die neue Langspielplatte aufzunehmen. Rhythm’n’Blues und Streicher? Black music mit Zuckerguss? Nein, das ging in den Augen aller Beteiligter damals überhaupt nicht. Doch Ray Charles probierte es aus. Und er hatte nicht nur den nötigen Sturkopf, um es gegen alle Widerstände durchzuboxen, er hatte auch die feste Überzeugung, damit einen neuen Sound und gleichzeitig neuen Trend zu kreieren. Und er sollte Recht behalten.
Was Ray Charles damals tat, war nicht nur ein geschmacklicher Tabubruch, es war auch gesellschaftspolitisch gewagt, und es war ein finanzielles Risiko. Schwarze und weiße Musik waren strikt getrennt, der Begriff „race records“ drückt dies in entlarvender Eindeutigkeit aus. Wie wollte man da Erfolg haben, wenn man Elemente aus der weißen Musik mit dem Rhythm’n’Blues mischte?
Für Ray Charles gab es die Grenzen zwischen schwarz und weiß in musikalischer Hinsicht sowieso nicht. Schon früh hatte er in einer weißen Country-Band angeheuert, später sollte er beides – Country und Blues – erfolgreich zusammenführen. Charles hatte schon länger gespürt, dass er etwas Neues machen musste, dass er sich verändern musste, um persönlich und musikalisch weiterzukommen. Darum vor allem kehrte er 1959 seiner Plattenfirma Atlantic den Rücken und kam bei der viel größeren ABC Paramount unter. Nur dort hatte er die Bedingungen, die er benötigte, um seine Pläne umzusetzen. Wie zum Beispiel das große Streichorchester bei Georgia On My Mind.
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Schon die Einleitung zum Song ist bemerkenswert. Es ist ausschließlich das Streichorchester zu hören, das von Ralph Burns auf geradezu klassische Weise arrangiert wurde. In gerader Rhythmik und einfacher Melodik, leicht süßlich in hoher Lage beginnend, weist nicht nichts auf das hin, was musikalisch folgt: ein Jazzstandard.
Verglichen mit seinen bisherigen Aufnahmen nimmt Ray Charles sein bluesiges Klavierspiel stark zurück, reduziert dies auf Fills in Gesangspausen, und konzentriert sich auf seinen ausdrucksstarken Bluesgesang. Auch die Rhythmusgruppe ist sehr zurückgenommen und soundtechnisch nach hinten gemischt. Im Vordergrund stehen ganz klar die beiden Gruppen der Streicher und die der Chorsänger und Chorsängerinnen. Dabei ist das Arrangement sehr vielseitig, wechselt zwischen den beiden Gruppen ab, und führt sie wieder zusammen. Im Chorpart singen manchmal nur die Männer, dann die Frauen; einstimmige Linien auf Tonsilben wechseln mit mehrstimmigem Gesang. Jazzakkorde sorgen für einen spannungsvollen Klang. An manchen Stellen übernimmt der Chor die im Gospel übliche Rolle des Antwortgesangs (call & response).
Betrachtet man das Streicherarrangement im B-Teil, stellt man fest, dass Burns die Streicher beim ersten Mal einstimmig in tiefer Lage eine sogenannte Guide-Line, eine chromatisch auf- und absteigende Linie spielen lässt. Beim zweiten Durchgang findet eine enorme Steigerung statt. Die Streicher spielen, ohne die triolische Rhythmik der Rhythmusgruppe zu übernehmen, in geraden Achteln (straight eights) eine mehrstimmig ausgesetzte Gegenmelodie zur Gesangsstimme. Gerade diese kontrapunktische Setzweise zusammen mit dem rhythmischen Kontrast ergibt einen interessanten Effekt, der das Arrangement über das Übliche hinaushebt und auszeichnet.
Georgia On My Mind wurde zu einem Signature-Song für Ray Charles. Er lag ihm sicher auch deshalb sehr am Herzen, weil er, aus einem kleinen Ort im Grenzgebiet zwischen Florida und Georgia kommend, seine Heimatverbundenheit ausdrückte. Dabei war der Song schon 30 Jahre alt, als ihn Charles coverte. Autor war der Komponist Hoagy Carmichael, der den Song 1930 zusammen mit dem Texter Stuart Gorrell schrieb. Umstritten ist bis heute, ob Carmichael mit Georgia den US-amerikanischen Bundesstaat meinte, oder nicht doch eher seine Schwester, die auch Georgia hieß. Ob das den Politikern bewusst war, die Georgia On My Mind 1979 zur offiziellen Hymne von Georgia erklärten? Egal. Es ändert nichts daran, dass die Aufnahme von Georgia On My Mind auch nach über 60 Jahren nichts von ihrem Charme verloren hat.
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