1980
Als der amerikanische Präsident Ronald Reagan im Jahr 1983 einen Gesetzentwurf unterzeichnete, der den jeweils dritten Montag im Januar zum nationalen Gedenktag für Dr. Martin Luther King erklärte, waren die Unterstützer des Gedenkens an den charismatischen Bürgerrechtler am Ende eines langen Wegs angekommen. Schon wenige Tage nach Kings Ermordung hatte der afro-amerikanische demokratische Kongressabgeordnete John Conyers einen Gedenktag angeregt und einen entsprechenden Gesetzesentwurf eingebracht. Doch es sollte noch 15 lange Jahre dauern, bis der Feiertag Wirklichkeit wurde.
Ob der Gedenktag jemals ohne Stevie Wonders Hilfe zustande gekommen wäre, darf getrost bezweifelt werden. Wonder hatte den in den USA allgegenwärtigen Rassismus schon als Kind am eigenen Leib erfahren, wie er selbst erzählt. (1) So machte er die ersten Erfahrungen mit seiner Hautfarbe, als seine Großmutter gestorben war, und die Familie in den Süden fuhr. Dabei beleidigten ihn die Nachbarskinder immer wieder mit dem N-Wort. Dies löste bei dem kleinen Stevie Verwunderung und Verärgerung aus, weil er – blind wie er war – gar nicht wusste, was das war und nicht verstand, warum man ihn beschimpfte. Er konnte ja nicht sehen, wie er und wie der andere aussah.
Während seiner Zeit als "Little Stevie Wonder" bei Motown traf er bei den ausgedehnten Tourneen in die Südstaaten wieder auf die dort institutionalisierte Rassentrennung. Aus diesen Erfahrungen heraus thematisierte er den Rassismus immer wieder in seinen Songs, oft auch im Kontext sozialer Themenstellungen, wie zum Beispiel in Living for the City oder Pastime Paradise vom Album Songs in the Key of Life.
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Mitte der 1960er Jahre war der 1950 geborene Stevie Wonder allerdings noch zu jung, um sich in der von Dr. Martin Luther King geführten Bürgerrechtsbewegung zu engagieren. King stand wie kein anderer für friedlichen Protest und starb trotzdem gewaltsam. Er hatte seit Ende der 1950er Jahre stetig und konsequent für die Rechte der Afro-Amerikaner und gegen die Rassendiskriminierung gekämpft. Höhepunkt der friedlichen Proteste war der Marsch auf Washington im Jahr 1963 mit Luther Kings berühmter Rede vor dem Lincoln Memorial, in der er in kraftvollen Bildern und mit enormer Sprachgewalt eine friedliche, freundschaftliche und gleichberechtigte Koexistenz von Schwarzen und Weißen in den USA beschwor.
Als Dr. Martin Luther King am 4. April 1968 auf dem Balkon eines Motels in Memphis von einem Schuss tödlich getroffen wurde, war die Welt geschockt. Das FBI nahm Wochen später den mutmaßlichen Attentäter auf dem Londoner Flughafen fest, doch dieser James Earl Ray war höchstwahrscheinlich nicht mehr als ein Sündenbock. Es gibt zu viele Unklarheiten, was den Ablauf des Verbrechens angeht, zu viele Versuche des FBI, nicht genau zu recherchieren. Es fällt nicht schwer zu glauben, dass der amerikanischen Geheimpolizei dieser unbequeme, die Massen bewegende Mann zu gefährlich, zu einflussreich geworden war.
Stevie Wonder war wie viele afro-amerikanische Musiker zu Kings Beerdigung gekommen. Er lernte dort neben John Conyers auch Kings Witwe Coretta Scott King kennen, zu der er den Kontakt in den folgenden Jahren nie ganz abreißen ließ.
Im Jahr 1979, elf Jahre nach Martin Luther Kings Tod waren die Kräfte, die ein Gedenken an den Bürgerrechtler verhindern wollten, noch unvermindert stark, so dass ein von Präsident Jimmy Carter vorgelegter Gesetzentwurf für den Feiertag knapp abgelehnt wurde. Als Stevie Wonder merkte, dass die Einflussnahme rein über politische Kanäle nicht zum Ziel führen würde, setzte er auf eine neue Strategie um den Gedenktag durchzusetzen: die Kraft der Musik. Doch wie könnte sich ein Song anhören, mit dem man einen solchen Gedenktag einfordert? Wonders Lösung war genial.
Der auf dem Album Hotter than July aus dem Jahr 1980 veröffentlichte Song Happy Birthday, auf dem er sich vehement für den Gedenktag aussprach, besaß nichts vom Zorn früherer Aufnahmen wie Living for the City oder von der Melancholie von Pastime Paradise. Im Gegenteil, der Song bestach durch eine ausgeprägte Fröhlichkeit, ja fast schon eine Art von Partystimmung. Wenn Wonder eines gelernt hatte, dann dass Verbissenheit und Verbitterung nicht zum Ziel führen würden. So propagierte der Song eine "world party“ an dem Tag, wo er zur Welt kam (2), wobei mit "er" natürlich Martin Luther King gemeint war. Es war sicherlich auch Teil der Strategie, dass der Name Martin Luther King im Liedtext nur einmal, quasi am Rande vorkommt, und ansonsten das mehrfach wiederholte "Happy Birthday" des Refrains den Song dominiert.
Im Liedtext geht Wonder auch nur verklausuliert auf Kings Verdienste ein, wie auf seinen berühmten Satz "I have a dream...", den Wonder so aufgreift, dass einige den „dream“ nicht so klar sehen konnten wie er. Der optimistische Grundton des Songs findet sich in vielen Textzeilen wieder. Ab der Bridge des Songs kommt der vielleicht entscheidende Schachzug, indem Wonder keinen direkten Gedenktag für King, sondern einen weltweiten Feiertag für den Frieden fordert. Dem konnte nun wirklich niemand widersprechen.
Doch nun musste Wonder es noch schaffen, die Massen zu bewegen. Und er scheute weder Kosten noch Mühen. Für die nächsten Jahre widmete er sich fast nichts anderem, als das Momentum des Songs in einer Tournee, in großen Live-Events und von ihm selbst organisierten Massenkundgebungen auf das Publikum zu übertragen. Wie viel seines Vermögens Wonder einsetzte, hat er nie verraten, er äußerte sich, wenn überhaupt, nur kryptisch und meinte, dass es teuer war, weil er seine Karriere zu einem Großteil zum Stillstand brachte. (3)
Aber es funktionierte. Wonder tourte und sang und tourte und sang und das Publikum sang Happy Birthday wie eine Hymne begeistert mit. Dazu sammelten Wonder und Coretta Scott King Unterschriften für eine Petition - sechs Millionen waren es am Ende - und am Schluss konnte sich dieser geballten positiven Kraft niemand mehr widersetzen. Der Martin Luther King Day konnte kommen.
(1) Filmische Dokumentation mit dem Titel Stevie Wonder. Genauere Quellenangaben aufgrund von
unvollständiger VHS-Kopie nicht möglich.
(2) Wonder, Stevie. Happy Birthday [Liedtext]. EMI Music Publishing Germany GmbH
(3) Filmische Dokumentation mit dem Titel Stevie Wonder, ebda.
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