Gloria Gaynor: I will survive

Wie Dino Fekaris seine Entlassung künstlerisch verarbeitete

Gloria Gaynor war sich sofort sicher, als sie den handgeschriebenen Liedtext zu I will survive zum ersten Mal durchlas. Man hat als Künstler ein Gefühl dafür. Sicherlich war auch ihre persönliche Situation mit dafür verantwortlich, dass sie sich von den Worten, die Dino Fekaris geschrieben hatte, überwältigt fühlte und dass sie die Energie und die Kraft sofort spürte, die aus dem Liedtext sprach. Sie sollte recht behalten. I will survive ist zum zeitlosen Klassiker avanciert und hat in den letzten Jahrzehnten schon vielen Menschen die Zuversicht gegeben, aus ihren schwierigen Lebenssituationen gestärkt und mit neuem Lebensmut hervorzugehen.

Auch Dino Fekaris war in einer schwierigen Lage, als er den Liedtext verfasste. Fekaris war professioneller Songwriter bei Motown gewesen. Motown war eine besondere Plattenfirma, die von ihrem Gründer und Chef Barry Gordy nach ihrem Sitz in der Autostadt (Motortown) Detroit benannt wurde. Gordy nahm sich über den reinen Namen hinaus auch die Produktionsweise der Autoindustrie zum Vorbild. Hits konnten seiner Überzeugung nach genauso produziert werden wie Autos. Seine ausschließlich afro-amerikanischen Künstler kamen als unbeschriebene Blätter, als reine Talente, zu ihm und wurden in allem ausgebildet, was sie benötigten, um erfolgreiche Künstler zu werden.

Dazu zählte auch ausgezeichnetes Songmaterial, eine professionelle Bandbegleitung und eine perfekte Produktion im Studio. Gordy überließ auch in diesen Bereichen nichts dem Zufall, stellte Songwriter und Musiker ein und ließ sie im Team exklusiv für Motown texten, komponieren und die Songs im Studio aufnehmen. Der ganze Prozess wurde von Barry Gordy persönlich überwacht. Er war vor allem für die Produktion im Studio zuständig und hatte das untrügliche Gespür dafür, welcher Song zu welchem Interpreten passte. Als Ergebnis war Motown eine große Hit-Maschine, deren Sound als Motown-Sound unverwechselbar und prägend für eine ganze Generation afro-amerikanischer Musikerinnen und Musiker war.


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So war es sicherlich etwas Besonderes, Teil der sogenannten Motown Family zu sein. Dazu bot Motown für die Autoren und Musiker Sicherheit, regelmäßige Einkünfte und einen festgesteckten kreativen Rahmen. Außerdem lernte man das Handwerkszeug des Songschreibens und Produzierens und die Erfolgsformeln des Showbusiness von Grund auf kennen. Dafür nahm man in Kauf, nur ein Rädchen im Produktionsprozess zu sein. Ausdruck dessen war, dass die Kreativen anonym blieben und auf den Schallplatten im besten Fall mit Team-Namen wie "The Corporation" erwähnt wurden. Die Band, die die meisten Motown-Hits einspielte trat erst viele Jahre später als "The Funk Brothers" ans Licht der Öffentlichkeit.

Als Dino Fekaris Motown nach sieben Jahren verlassen musste, sah er sich von jetzt auf nachher als freischaffender Songwriter dem rauen Wind des freien Marktes ausgesetzt. Und die Geschäfte liefen anfangs schlecht. Doch eines Tages, als Fekaris das Fernsehen einschaltete und plötzlich einer seiner Songs gespielt wurde, Generation (Light up the Sky) von der Band Rare Earth, war er sich sicher, dass er es auch ohne Motown schaffen würde und erfolgreich sein könnte.

"I turned the TV on, and there it was: a song I had written for a movie theme titled Generation was playing right then. I took that as an omen that things were going to work out for me. I remember jumping up and down on the bed saying, 'I'm going to make it. I'm going to be a songwriter. I will survive!" (1)

Dieses "I will survive!" war ein Ausdruck der Zuversicht und des grenzenlosen Optimismus. Fekaris war Profi genug, um zu wissen, dass er diese Eingebung kreativ verarbeiten musste.

Ungefähr zur gleichen Zeit wie Fekaris hatte auch Freddie Perren seinen Job bei Motown verloren. Er war ein Viertel der "Corporation" gewesen, wie Barry Gordy das Quartett nannte, das außer ihm selbst und Freddie Perren noch aus Alophonso Mizell und Deke Richards bestand. Als Songwriting- und Production-Team war "The Corpration" vor allem für den Erfolg einer von Gordy neu verpflichteten Boy Group mit dem Namen Jackson 5 verantwortlich gewesen und hatte deren erste Hits I want you back und ABC geschrieben und produziert.

Perren und Fekaris schlossen sich zusammen und bildeten fortan ein Songwriting- und Produktionsduo mit eigenem Studio. Zusammen arbeiteten sie I will survive zu einem fertigen Song aus. Aus dem ursprünglichen Anlass, der Entlassung Fekaris' von Motown, war inzwischen in der kreativen Verarbeitung die Geschichte einer gescheiterten Beziehung geworden, aus der der eine Partner gestärkt hervorgeht und dies selbstbewusst zum Ausdruck bringt.

Es gab allerdings niemand, der den Song singen hätte können. So verschwand I will survive erst einmal in der Schublade. Aber Perren und Fekaris waren sich sicher: Die nächste Diva, die anklopft, bekommt den Song. Doch da Diven nicht so oft an die Tür klopfen, dauerte es zwei Jahre, bis der Song seine wahre Bestimmung in Gloria Gaynor fand.

Gloria Gaynors Plattenfirma Polydor war 1978 auf der Suche nach einem Produzenten für Gaynors neue geplante Single Substitute, einer Cover-Version des Songs der Righteous Brothers, der zuvor auch schon von der südafrikanischen Frauen-Band Clout erfolgreich gecovert worden war. Perren und Fekaris erhielten den Zuschlag und präsentierten Gaynor auch I will survive. Sie war sofort überzeugt, dass es ihr Song war, der Song, auf den sie gewartet hatte:

“I’ve always believed that God said to the writers, ‘Sit down, write this song and just hold onto it. I’m going to send you somebody,' and he sent me.” (3)

Gloria Gaynor hatte 1978 mit den Folgen eines Bühnenunfalls zu kämpfen. Sie hatte im New Yorker Beacon Theatre in einer Choreographie mit anderen Tänzern getanzt, als sie rückwärts über eine auf der Bühne aufgestellte Monitor-Box fiel. Am nächsten Morgen, als sie erwachte, konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen. In einer Operation wurde eine zerstörte Bandscheibe in der Lendenwirbelsäule entfernt und die beiden Rückenwirbel miteinander verbunden. Sie war ein halbes Jahr im Krankenhaus, musste anschließend für längere Zeit ein stützendes Korsett tragen und litt unter ständigen Schmerzen. (4)

In diesem Zustand sang sie I will survive im Studio ein. Wahrscheinlich erklärt sich aus diesem Umstand auch die starke emotionale Verbundenheit, die sie zum Songtext fühlte und die sich in der mitreißenden und fast schon trotzigen vokalen Performance äußert. Ihre Überzeugung, dass I will survive im Vergleich zu Substitute der bessere Song sei und ein absoluter Hit werden würde, teilte sie auch den Chefs von Polydor mit, letztlich war diese Überzeugungsarbeit allerdings fruchtlos. Substitute wurde als A-Seite und I will survive nur als B-Seite veröffentlicht.

So wurde auch bei der Aufnahmesession mehr Zeit und Wert auf Substitute gelegt. Der Gitarrist Robert Bowles erinnert sich, dass kaum Zeit für die Aufnahme von I will survive gewesen sei und alle Musiker völlig entspannt waren, weil man überzeugt war, dass die Aufnahme eh nicht groß gespielt werden würde. Die Musiker kannten nicht einmal den Songtitel oder die Melodie des Songs, als sie ihren Part spielten. (5) Laut Bowles hatten die Musiker auch nur ein Chordsheet, also ein Abfolge von Akkorden, zur Verfügung (6) und improvisierten auf dieser Grundlage sehr frei. Das langsame Intro und der Groove-Teil wurden getrennt aufgenommen und später zusammengemischt.

Dass der Song trotz seines Handicaps als B-Seite zum Erfolg wurde, lag wieder an Gloria Gaynor. Sie verteilte die Single an die New Yorker DJs, die - völlig unüblich - begannen, die B-Seite öfter zu spielen als die A-Seite. Auf diese Weise gewann der Song immer mehr an Momentum, bis auch die Plattenbosse merkten, dass sie auf das falsche Pferd gesetzt hatten und I will survive als A-Seite herausbrachten.

In der Folge wurde I will survive zu einem der erfolgreichsten Songs der Disco-Ära und darüber hinaus zu einer Hymne der weiblichen Selbstbestimmung. Im Jahr 2015 wurde I will survive in das National Recording Registry der USA als historisch, kulturell und ästhetisch besonders erhaltenswertes Tondokument aufgenommen. Somit ist klar: Dieser Song wird definitiv überleben.

(1) Zitiert nach: https://www.songfacts.com/facts/gloria-gaynor/i-will-survive. Abgerufen am 29.10.2024
(2) Maslow, Nick. Gloria Gaynor Reveals She Underwent Risky Spine Surgery: 'I Thought I Was Going to Die'. 5.6.2019. https://people.com/health/gloria-gaynor-spine-surgery-exclusive/. Abgerufen am 29.10.2024.
(3) Ebda.
(4) Sie musste sich als Folge der ersten Operation 1997 erneut operieren lassen und ist erst seit einer großen Operation 2017 schmerzfrei.
(5) Bowles, Robert mit Greaves Greer, Kathleen. Behind the Boogie: How I Became Guitarist for a Motown Legend. Xlibris, 2011. S. 100-101.
(6) Harmonische Grundlage des Songs ist ein Quintfall, wie er seit der Zeit des Barock in der Musik üblich ist. Dabei handelt es sich um eine Akkordfolge, bei der der Folgeakkord immer ein Quint tiefer liegt. In a-Moll, der Tonart von I will survive handelt es sich um die Akkorde Am7 - Dm7 - G7 - Cmaj7 - Fmaj7 - Bm7b5 - E7sus - E7, was eine konstant wiederholte achttaktige Form ergibt.

Kontakt

  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.