Harry Styles: Sign Of The Times

Die Entstehung eines spektakulären Musikvideos und die Frage nach Bezügen zum Song

Man könnte fast meinen, der Mann könne wirklich übers Wasser laufen und fliegen. Irgendwie würde man es ihm sogar zutrauen, dem neuen Star am Pophimmel, der es wie einst Robbie Williams mit scheinbar großer Leichtigkeit geschafft hat, die Boygroup-Urgründe hinter sich zu lassen, um zu einer beispiellosen Solokarriere emporzuschweben. Die Rede ist natürlich von Harry Styles und seinem Video zu Sign Of The Times. 1,1 Milliarden Aufrufe auf Youtube verzeichnet das mehrfach ausgezeichnete Video inzwischen, (1) so dass man es nicht mehr groß beschreiben muss. Wer es dennoch noch nicht kennt, schaut es am besten selbst.

Man denkt bei der Betrachtung des fliegenden Harry Styles spontan an die immer unglaublicheren Möglichkeiten, die moderne Computerprogramme bieten, und ist dann bei weiterer Recherche doch einigermaßen erstaunt, dass hier nicht nur Computer-Trickserei, sondern eine völlig reelle Flugshow zugrunde liegt. Denn Harry Styles flog beim Dreh zum Video, der im April 2017 in der Staffin Bay, einem abgelegenen Küstenstreifen auf der schottischen Insel Skye stattfand, persönlich durch die Luft.

Die Bilder und Filme, die davon existieren, (2) zeigen einen Harry Styles in einem langen schwarzen Mantel, unter dem er ein Gurtzeug trägt. Durch ein in den Mantel hineingeschnittenes Loch am oberen Rücken konnte ein Karabiner in das Gurtzeug eingehakt werden, an dem Styles in die Luft gezogen wurde. Dabei kam für die Szenen, in denen er nur kurz über dem Gras schwebt, ein kleinerer Autokran zum Einsatz. Für die längeren und höheren Flugszenen hing Styles tatsächlich an einem Helikopter. Der Computer wurde anschließend nur benutzt, um das Seil und die Aufhängung an Styles' Rücken wegzuretuschieren.


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Die Firma, die mit dem Auftrag betraut wurde, Harry Styles buchstäblich hängen zu lassen, hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur Lasten auf diese Weise befördert. (3) Insgesamt waren zwei Hubschrauber an der Aktion beteiligt: unter dem ersten hing Styles, während der zweite benutzt wurde, um die Szenen filmisch festzuhalten.

Was völlig unglaublich klingt, war auch genau so unglaublich. Laut den Aussagen des Piloten Will Banks, der Harry Styles unter sich hatte, stieg er mit ihm bis auf 1500 Fuß, also ungefähr 450 Meter in die Luft. 450 Meter! Das ist so hoch wie der Sears Tower in Chicago. Eine unvorstellbare Höhe, wenn man frei schwebend unter einem fliegenden Helikopter hängt. Man muss Harry Styles' Mut schon bewundern.

Trotzdem fragt man sich, wie man um alles in der Welt einen Star wie Harry Styles einem solchen Risiko aussetzen kann. Normalerweise werden Stars für solche Szenen gedoublet. Die Helikopter-Firma und Styles selbst beteuern zwar, alles sei sicher gewesen und x-fach geprüft worden, doch ganz ohne sind solche Stunts nie. Styles gibt dann auch zu, dass die Aktion "mental" gewesen sei, (4) was man grob mit "gesponnen" oder "verrückt" übersetzen könnte. Aber das ist vermutlich wieder nur eine Frage der Sichtweise. Denn man liest erstaunt im Internetauftritt der Helikopter-Firma: "When it came to flying him through the air, it was relatively simple." (5) Allerdings liest man dann auch: "Making him run on water, however, required excellent precision and skill." (6) Ja, da muss man schon etwas genauer aufpassen, ob der gute Harry gerade auf dem Wasser läuft oder vielleicht gerade untergeht.

Man fragt sich aber auch: Wozu der ganze Aufwand? Alles nur, um ein spektakuläres Video vorzweisen zu können? Oder hat die Gestaltung des Videos etwas mit dem Song zu tun? Oft folgen Musikvideos ja einer komplett eigenen Idee, erzählen eine komplett eigenständige Geschichte, oder bedienen sich einer eigenen Ästhetik. Bei Sign Of The Times korrespondiert der schwermütige Charakter des Songs allerdings gut mit der kargen Landschaft und dem rauen Klima Schottlands. Allerdings will die Leichtigkeit des Fliegens nicht so recht zum schwerfällig in langsamen Vierteln dahinfließenden Beat des Songs passen, dafür eher noch zum Falsettgesang Styles' im Refrain ("We never learn...").

Aber möglicherweise ergibt sich inhaltlich ein Bezug zum Fliegen? Die Antwort auf diese Frage entpuppt sich als schwierig, da der Songtext so allgemein gehalten ist, dass vielerlei Interpretationen möglich sind. Genau dies macht aber auch einen guten Songtext aus. Das wusste auch schon einer der Altmeister der Singer-Songwriter, Don McLean, der seinen Song American Pie nie erklärt hat, mit der sinngemäßen Begründung, dass er den anderen nicht die Arbeit wegnehmen möchte. (8) Harry Styles hat sich aber dazu hinreißen lassen, in einem Interview mit dem Rolling Stone eine Erklärung zur Idee hinter dem Liedtext abzugeben, die in Teilen allerdings mehr verwirrt, als dass sie zur Klärung beiträgt. Styles sagte:

"Most of the stuff that hurts me about what’s going on at the moment is not politics, it’s fundamentals, equal rights. For everyone, all races, sexes, everything. ’Sign of the Times’ came from ‘This isn’t the first time we’ve been in a hard time, and it’s not going to be the last time.’ (9)

Dass wir in schwierigen Zeiten leben, in denen die Ungleichheiten eher wachsen als verschwinden, in denen alte Gewissheiten außer Kraft gesetzt oder zumindest einer starken Bewährungsprobe ausgesetzt sind und in denen sich die Gesellschaft immer mehr spaltet, ist eine Analyse, die auch vor Corona-Zeiten schon gegriffen hat, der man ohne weiteres zustimmen kann, und die sich auch so im Liedtext ausdrückt. Insofern ist der Liedtext auch gut sieben Jahre nach seiner Entstehung auf bedrückende Weise aktuell.

Schwieriger ist der zweite Teil seiner Erklärung.

"The song is written from a point of view as if a mother was giving birth to a child and there's a complication. The mother is told, 'The child is fine, but you're not going to make it.' The mother has five minutes to tell the child, 'Go forth and conquer.'" (10)

Das liegt zum einen daran, dass die geschilderte Situation äußerst unrealistisch ist (Welche Mutter kann einem Neugeborenen in fünf Minuten die Welt erklären? Ganz abgesehen davon, dass ein Neugeborenes keine Sprache versteht und gar nicht weiß, was die Welt ist), auch wenn es Styles sicherlich mehr metaphorisch meint, denn er sagt ja "as if", also wie wenn eine Mutter in der Situation wäre. Zum anderen liegt es daran, dass einige der zentralen Zeilen des Liedtexts "We gotta get away from here" und "We can meet again somewhere, somewhere far away from here" (11) nicht zum Auftrag passen, dem Kind mitzugeben, wie es die Welt erobern soll ("Go forth and conquer"), sondern eher an eine Weltflucht denken lassen. Also doch der ganzen Malaise wie im Video einfach davonfliegen?

Wahrscheinlich ist die Suche nach einer logischen und sinnvollen Beziehung zwischen Musik und Liedtext auf der einen und Gestaltung des dazugehörigen Musikvideos auf der anderen Seite eh müßig. Die meisten Menschen werden sich einfach von der Macht der Bilder hinreißen lassen und die Hintergründe nicht groß hinterfragen. Was natürlich durchaus erlaubt ist. Man muss im Leben auch einfach nur genießen können.

(1) https://www.youtube.com/watch?v=qN4ooNx77u0. Abgerufen am 23.02.2024.
(2) Guy, Rachel. WHAT DIRECTION? Harry Styles spotted on Isle of Skye secretly filming dramatic scenes for hotly-anticipated new music video. https://www.thescottishsun.co.uk/news/830667/harry-styles-isle-of-skye-sign-of-the-times-scotland/. Abgerufen am 23.2.2024.
(3) THAT TIME WE DANGLED HARRY STYLES OUT OF A HELICOPTER. 17. Oktober 2019. Abgerufen am 23.02.2024.
(4) Harry Styles admits helicopter video stunt was 'mental'. https://www.8days.sg/hollywood-buzz/harry-styles-admits-helicopter-video-stunt-was-mental-465601. Abgerufen am 23.2.2024.
(5) THAT TIME WE DANGLED HARRY STYLES OUT OF A HELICOPTER. Quelle: https://gbhelicopters.com/harry-styles/#:~:text=With%20no%20green%20screen%20and,to%20thoroughly%20enjoy%20the%20experience. Abgerufen am 23.02.2024.
(6) ebda.
(7) Crowe, Cameron (18 April 2017). "Harry Styles' New Direction". Rolling Stone. Abgerufen am 23.2.2024.
(8) Er hat dies inzwischen doch getan. In einer Dokumentation mit dem Titel "The Day The Music Died" erklärt er den Liedtext Vers für Vers und bricht damit sein jahrzehntelang durchgehaltenes Schweigen.
(9) Crowe, Cameron. Harry Styles’ New Direction. https://www.rollingstone.com/feature/harry-styles-new-direction-119432/. Abgerufen am 24.2.2024.
(10) ebda.
(11) Styles, Harry; Bhasker, Jeffrey; Johnson, Samuel; Salibian, Alex; Nasci, Ryan. Liedtext zu Sign Of The Times. HSA Publishing Ltd. et al.

Kontakt

  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.