1983
Tief im Osten und tief in den Achtzigern hielt sich noch der real-existierende Sozialismus. Einige verknöcherte alte Bonzen klammerten sich in der Deutschen Demokratischen Republik mit aller Macht und mit Hilfe einer perfekten Spitzelorganisation - genannt Staatssicherheitsdienst - an ihre Posten. Vielleicht ahnten sie 1983 schon, dass ihre Zeit ablaufen würde. Hätten sie sich sonst vom Deutschrocker Udo Lindenberg so bereitwillig durch den Kakao ziehen lassen?
Lindenberg wollte nämlich Anfang 1983 einige Konzerte in der damaligen DDR geben, was ihm aber von deren Führung verboten wurde. Die war damals immer noch ängstlich darauf bedacht, so wenig westliche Einflüsse wie möglich ins Land zu lassen, um keine Begehrlichkeiten in der eigenen, in äußerst bescheidenen Lebensumständen lebenden Bevölkerung zu wecken. Die Führungselite selbst wiederum ließ es sich im Berliner Stadtteil Niederschönhausen im Bezirk Pankow gut gehen, in einem kleinen und streng abgeschirmten Straßenzug, dem Majakowski-Ring, der intern auch das "Städtchen" genannt, von westlichen Vertretern aber pauschal als "Pankow" bezeichnet wurde.
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Darauf spielte Udo Lindenberg in seinem Lied Sonderzug nach Pankow an, mit dem er auf die Konzertabsage reagierte. Lindenberg veröffentlichte das Lied am 7. Februar 1983. Darin bat er darum, doch in der DDR ein Konzert geben zu dürfen und nahm dabei vor allem den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker derart auf die Schippe ("Oberindianer", "Honni", "sturer Schrat") (1), dass der Song in kurzer Zeit in aller Munde war und sich alle (zumindest alle außerhalb des Führungszirkels der DDR) köstlich amüsierten. Vor allem die Unterstellung, dass "Honni" Honecker, genauso wie seine Bürger heimlich - aufm Klo, und mit Lederjacke - Westradio hört, was offiziell ja verboten war, war natürlich höchst provokant.
Der Schluss des Songs mit dem im Stil einer Lautsprecherdurchsage gesprochenen russischen Text, der es Lindenberg im Namen des Obersten Sowjets erlaubte, in der DDR aufzutreten und somit suggerierte, dass die Staatsführung der DDR nur ein Spielball Moskaus sei, setzte der Provokation noch die Spitze auf.
Logischerweise geriet Udo Lindenberg hierdurch und durch den anvisierten Auftritt in der DDR verstärkt ins Visier der Staatssicherheit. Aber schon 1976 hatte die Stasi eine Einschätzung Lindenbergs verfasst, in der er als „mittelmäßiger Schlagersänger der BRD“ bezeichnet worden war, an dem kein Interesse bestünde. Laut der Stasi trete er betont anarchistisch auf, was sich in seiner abgetragenen Kleidung und seiner Frisur äußere, außerdem sei er ein "gleichgültiger und pessimistischer Mensch". (2)
Nach der Veröffentlichung von Sonderzug nach Pankow urteilte die Stasi in einer schriftlichen rechtlichen Einschätzung des Liedtextes schon drei Tage später, dass die Würde des Staatsratsvorsitzenden Honecker durch den Liedtext herabgesetzt werde. Sie stufte den Text deshalb als „Straftat der Beleidigung nach §139 Absatz 3 StGB ein.“ (3)
Für die öffentliche Aufführung des Sonderzugs – und damit der „Störung des sozialistischen Zusammenlebens“ (4) - wurde Berufsmusikern, Laienmusikern und nebenberuflichen Musikern, genauso wie Schallplattenunterhaltern (sic!), eine Verwarnung, ein befristetes oder unbefristetes Spielverbot, eine Geldstrafe oder sogar der Entzug des Berufsausweises angedroht. (5)
Trotzdem, oder gerade deswegen: der Song zeigte Wirkung. Noch im gleichen Jahr, am 25. Oktober 1983, durfte Udo Lindenberg im Rahmen eines von der Freien Deutschen Jugend (FDJ) veranstalteten Konzerts unter dem Titel "Rock für den Frieden" im Palast der Republik auftreten. Vorausgegangen waren zähe Verhandlungen, bei denen der Konzertveranstalter Fritz Rau den Auftritt Lindenbergs zur Bedingung machte, damit der von der Staatsführung der DDR gewünschte Harry Belafonte auch auftrat. Man musste allerdings zusichern, den "Sonderzug" nicht zu singen. Hilfreich war sicherlich auch ein persönlicher Brief Lindenbergs an Honecker, in dem er betonte, dass es ihm fern liege, "Herr Staatsratsvorsitzender, Sie mit diesem Liedchen zu diskreditieren". (6) Hartnäckigkeit, Verhandlungsgeschick, ein bisschen Diplomatie und Deeskalation, und am Ende siegte die Frechheit.
Beim 15-minütigen Auftritt dann zuerst die Ernüchterung. Statt einer tobenden Fangemeinde fanden Lindenberg und die Band 4.200 in blau gekleidete, linientreue und vorher eingehend belehrte FDJler vor, die mit zig Bussen zum Palast der Republik gekarrt worden waren. Die wahren Lindenberg-Fans mussten draußen bleiben und wurden dort den Leuten der Stasi „verarztet“, die in Hundertschaften rund und den Palast der Republik im Einsatz waren. Drinnen dann der Auftritt Lindenbergs, dessen Wirkung der Stasi-Bericht so beschreibt, dass - hätte Lindenberg ein Lied mehr gespielt - die zuvor belehrten Zuschauer vermutlich nicht mehr zu disziplinieren gewesen wären. (7) Noch mal gut gegangen für die Verantwortlichen und dennoch ein Triumph für Udo Lindenberg.
Musikalisch ist der Song eine Coverversion von Harry Warrens Swing-Klassiker Chatanooga Choo Choo, der 1941 in der Version von Glenn Miller weltberühmt wurde. Im Lied wird die Reise mit dem Zug von New York nach Chattanooga im US-Bundesstaat Tennessee besungen. Dabei sind die Anleihen nicht nur musikalischer Art, auch textlich startet Lindenbergs Version in ähnlicher Weise wie das Original: Aus "Pardon me boy, is this the Chatanooga Choo Choo?" (8) wurde "Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow?" (9)
Am 3. Oktober 2003, also zwanzig Jahre nach diesen Ereignissen, gab es den Sonderzug nach Pankow zum ersten Male wirklich, auch wenn er nicht nach Pankow fuhr. 13 Waggons, die von Udo Lindenberg selbst künstlerisch gestaltet worden waren, fuhren aus Anlass der Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit von Berlin nach Magdeburg. Sie sollten symbolisch die auch 13 Jahre nach der Wiedervereinigung vorhandenen Mauern in den Köpfen der Menschen in Ost und West einreißen.
(1) Lindenberg, Udo. Sonderzug nach Pankow [Liedtext]. EMI Partnership Musikverlag GmbH.
(2) Zitiert nach: Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv (Hg.). Udo rockt für den Weltfrieden.
Das Konzert von 1983 in den Stasi-Unterlagen.. Berlin, 2013, S. 13.
(3) https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/udo-lindenberg-ost-berlin-und-die-stasi-akten/. Abgerufen am 07.01.2020.
(4) ebda.
(5) ebda.
(6) Zitiert nach: Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv (Hg.). Udo rockt für den Weltfrieden.
Das Konzert von 1983 in den Stasi-Unterlagen.. Berlin, 2013, S. 27.
(7) https://www.stasi-mediathek.de/medien/information-zur-reaktion-des-publikums-waehrend-des-konzerts-von-udo-lindenberg/blatt/102/. Abgerufen am 07.01.2020.
(8) Gordon, Mack und Warren, Harry. Chatanooga Choo Choo [Liedtext]. WC Music Corp
(9) Lindenberg, Udo. Sonderzug nach Pankow [Liedtext]. EMI Partnership Musikverlag GmbH.
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