1985
Als der 15-jährige Rick Hansen an jenem ominösen Tag auf die Ladefläche des Pickups stieg, ahnte er noch nicht, dass es die letzten Stunden in seinem alten Leben sein würden. Mit Freunden hatte er einige Tage beim Fischen zugebracht, und nun suchten Rick und sein Freund Don eine Mitfahrgelegenheit zurück nach Hause. Der Fahrer des Pickup, der zuerst weiterfahren wollte und dann doch mit quietschenden Reifen anhielt um sie mitzunehmen, hatte sie wiedererkannt; sie hatten ihm einige Tage zuvor geholfen, seinen Reifen zu wechseln. Nun saßen die beiden Freunde auf der Ladefläche des Pickup, zwischen allem möglichem Krempel und einer großen Werkzeugkiste, und das Unheil nahm seinen Lauf. Der Fahrer, der einige Bier intus hatte, verlor auf der welligen Piste die Kontrolle über seinen Wagen, der aufschaukelte, ins Schleudern kam und im Graben landete. Die beiden Freunde auf der Ladefläche wurden heruntergeschleudert. Während Don mehr Glück bei der harten Landung hatte, krachte Rick Hansen mit dem Rücken auf die große Werkzeugkiste, die sich auch von der Ladefläche gelöst hatte. Er merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er konnte seine Beine weder fühlen noch bewegen.
Mit schier unglaublicher Willenskraft kämpfte sich Rick Hansen in den folgenden qualvollen Monaten zurück in ein neues Leben als Querschnittsgelähmter. Ein Leben, auf das 1973 in der kanadischen Provinz niemand eingestellt war. Doch davon ließ sich Hansen nicht beirren, trainierte hart und sammelte bald Trophäen im Behindertensport, gewann Rollstuhlmarathons und schloss als erster körperlich Behinderter das Studium zum Sportlehrer an der University of British Columbia ab.
Als Rick Hansen 1980 den Marathon of Hope des krebskranken Terry Fox sah, war sein nächstes Ziel klar. Doch weil Hansen stets in größeren Kategorien dachte, und so auch mehr Aufmerksamkeit generieren konnte, beschloss er, seine eigene Man-In-Motion-Tour etwas umfangreicher zu planen. Am 21. März 1985 startete er, um im Rollstuhl durch 34 Länder auf vier Kontinenten zu fahren. Dabei legte er 40.000 Kilometer zurück. Eine unglaubliche physische und psychische Leistung, die belohnt wurde: Für die Erforschung von Rückenmarksverletzungen und Behandlungsmethoden sammelte er bei seiner Tour 26 Millionen Dollar.
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Zu dieser Zeit, als Hansen sein weltumspannendes Projekt gestartet hatte, saß der kanadische Musiker, Komponist und Produzent David Foster über dem Auftrag, für den Film St. Elmo's Fire einen Soundtrack zu erstellen. Er bat den britischen Musiker John Parr, auf den er durch dessen 1984 veröffentlichtes selbstbetiteltes Album aufmerksam geworden war, um eine Zusammenarbeit am Titelsong. St. Elmo's Fire, ein sogenannter Coming-Of-Age-Film, der vom Erwachsenwerden einer Clique von sieben jungen Menschen und ihren Problemen, sich selbst und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden handelt, inspirierte die beiden Musiker nicht im Geringsten, weshalb weder musikalisch noch textlich irgendetwas Sinnvolles entstand. Und so saßen Foster und Parr im Studio und warteten getreu Foster's Überzeugung "hit songs come through you, not from you" (1) auf den Kuss der Muse.
Sie mussten nicht allzu lange warten, doch die Inspiration war eher ungewöhnlich und hatte mit ihrer Arbeit erst einmal gar nichts zu tun. Foster hatte von einem Freund eine Videokassette zugeschickt bekommen, auf der über Rick Hansens Man-In-Motion-Tour berichtet wurde. Sowohl Foster als auch Parr waren von Hansen und seiner Mission so überwältigt, dass plötzlich alles wie von selbst ging. Laut eigener Aussage benötigte Foster nur 15 Minuten, bis die Musik zum Song fertig war. (2)
Auch John Parr, der den Liedtext schrieb, beschreibt die Entstehung des ganzen Songs heute als Geschenk (3), über das er nicht groß nachgedacht hätte, das wie von selbst gekommen wäre. Beide sind sich einig, dass der ganze Song, also Musik und Text nichts mit dem Film zu tun haben. Einzig die prägnant hervorgehobene Melodielinie am Ende des Refrains mit den Worten "St. Elmo's Fire" habe man integrieren müssen, um den Bezug zum Film herzustellen.
Dabei kam John Parr beim Liedtext sicherlich zugute, dass es bei aller inhaltlicher Unterschiedlichkeit eine große Gemeinsamkeit zwischen Film und Hansens Man-In-Motion-Mission gibt: Sowohl der damals 27-jährige Hansen, als auch die Charaktere des Films sind junge Menschen, die einen fiktiv, der andere ganz real, die gerade dabei sind, ihren Platz im Leben zu finden und die Ziele für ihr Leben zu definieren und umzusetzen. Und so passte der Liedtext mit seinen Metaphern für hochfliegende Pläne und ambitionierte Ziele und mit seinem unerschütterlichen Glauben, diese auch zu erreichen, nicht nur perfekt auf Hansen, sondern eben auch auf den Film. Dies war sicherlich der Grund dafür, dass der Song problemlos, allerdings auch in großer Eile, von der Filmfirma durchgewunken wurde, nicht wissend was der wahre Inhalt war.
Wenn John Parr allerdings erzählt, dass er den Liedtext bewusst doppeldeutig geschrieben habe, um ihn Columbia besser unterjubeln zu können, dürfte er die Entstehung im Nachhinein wohl eher etwas verklären. Denn er gibt zwei Beispiele an, die mehr Fragen aufwerfen, als dass sie aufklären. So sagt Parr in jenem Interview, dass man denken sollte, "all I need's this pair of wheels" (4) bezöge sich auf Demi Moore's Jeep, wobei es in Wahrheit die Referenz an Rick Hansens Rollstuhl sei (5). Dabei sagt Parr im gleichen Interview, dass er zur Zeit der Entstehung des Liedtextes den Film gar nicht kannte und auch das Skript nicht gelesen hatte. Auch die jungen amerikanischen Schauspieler waren ihm nicht bekannt. Das andere Beispiel ist ebenso fragwürdig, denn Parr sagt, dass die Textzeile "for once in his life a man has his time" (6) sich auf das Ende der Man-In-Motion-Tour bezieht, wenn Hansen vor Millionen von Menschen in Vancouver ankommt, und nicht auf die Filmszene, wenn Emilio Estevez Andie MacDowell küsst. Doch Hansens Tour endete erst 1987, der Song erschien aber schon 1985 und das triumphale Ende von Hansens Tour war zwei Jahre zuvor noch nicht im geringsten abzusehen.
Schon eher war abzusehen, dass St. Elmo's Fire ein Hitsong werden würde, der nicht so schnell aus dem kollektiven Popgedächtnis verschwinden würde. Das lag allerdings nicht nur an Komposition und Textdichtung, sondern auch an Arrangement und Aufnahme. Da ist zuerst John Parrs emotionale und kraftvolle vokale Darbietung zu nennen, die er selbst direkt auf die Inspiration durch Rick Hansen zurückführt, wenn er sagt: "I came into the studio and sang it as if I was the guy in the chair. That's why it is so passionate." (7). Eine sehr wichtige Rolle spielt auch die Mitwirkung erstklassiger Musiker, man kann sagen, der Crème de la Crème der damaligen Studiomusiker. Das waren unter anderem die Keyboarder Steve Porcaro und David Paich, sowie der Gitarrist Steve Lukather von Toto, Carlos Vega an den Drums und die legendäre Bläsersection von Jerry Hey, die auf unzähligen Studioproduktionen der 80er zu hören war. Sie alle veredeln St. Elmo's Fire mit ihrem differenzierten und gleichzeitig druckvollen Spiel.
Aber auch Arrangement und Produktion sind hochwertig. So beginnt St. Elmo's Fire mit einer kurzen instrumentalen Melodielinie, die nach dem zweiten Refrain mehrfach wiederholt und mit John Parr's Gesang unterlegt wird. Sie nimmt dort die Funktion einer Bridge in der Songstruktur ein. Diese Melodie wird nun mit immer mehr Synthesizer-Sounds und durch immer weiter aufgefächerte Bläserstimmen intensiver und druckvoller und ist klanglich der eigentliche Höhepunkt des Songs. Aber auch die beiden unterschiedlichen Bläser-Backings zum Refrain, eine in Form einer Gegenmelodie, die andere mit kurzen Staccato-Sechzehnteln, die gegen Schluss auch kombiniert werden, geben der Aufnahme einen qualitativ hochwertigen Anstrich.
St. Elmo's Fire avancierte schließlich zur mehr oder weniger offiziellen Hymne für Rick Hansens Man-In-Motion-Tour, die ihn begleitete und in seinen strapaziösesten Momenten weitertrug: "When I feel I can't wheel another mile, I pull over and I play the song and I do another 20.", so Rick Hansen zu John Parr. (8) So überdauert der Song - anders als der heute eher in Vergessenheit geratene Film - mit seiner ihm innewohnenden Kraft, Intensität und Message die Zeiten.
Bleibt zum Schluss noch die Frage, was der Begriff "St. Elmo's Fire" eigentlich bedeutet. Das Elmsfeuer ist eine Lichterscheinung, die durch elektrische Ladungen hervorgerufen wird. Sie ist am häufigsten an Masten von Schiffen zu beobachten, im Vorfeld von Gewittern. Benannt ist das Elmsfeuer nach dem Bischoff Erasmus von Antiochia, der in Portugal und Italien Elmo genannt wird und als Schutzpatron der Seefahrer gilt. Für John Parr hatte der Begriff eine symbolische Bedeutung, die sehr gut zu Rick Hansens Mission passte: "St. Elmo's Fire was the embodiment of this dream he was wheeling towards." (9)
(1) Music icon David Foster tells the stories behind his biggest hits. Interview by Tom Power. CBC Music.
https://www.youtube.com/watch?v=IXSD3OpnpaY. Abgerufen am 3.9.2021.
(2) David Foster Interview https://www.youtube.com/watch?v=cfYSB56avzA. Abgerufen am 3.9.2021.
(3) Wiser, Carl. Songfacts Interview with John Parr. https://www.songfacts.com/blog/interviews/john-parr. Abgerufen
am 4.9.2021
(4) Foster, David, Parr John. St. Elmo's Fire [Liedtext]. EMI Gold Horizon Music Corp, 1985.
(5) Wiser, Carl, ebda.
(6) Foster, David, Parr John. St. Elmo's Fire [Liedtext]. EMI Gold Horizon Music Corp, 1985.
(7) The One Show (BBC One) Interview with John Parr. https://www.youtube.com/watch?v=YpyUx6Qd02k. Abgerufen am 4.9.2021.
(8) ebda.
(9) ebda.
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