Kelly Rowland: Stole

Wenn das Leben gestohlen wird - Kelly Rowlands R'n'B-Song über Amokläufe an Schulen und die Kontroverse über das Video

Als Kelly Rowland im May 2019 von der australischen Daily Mail zu ihrem Song Stole und der anhaltenden Gewalt mit Schusswaffen in den U.S.A. befragt wird, bricht sie in Tränen aus. In der Tat hat sich seit dem Erscheinen des Songs im Jahr 2002 im Grunde nichts getan. Waffengesetze in den U.S.A. sind so lasch wie eh und je und eine mächtige Waffenlobby und deren prominente Willfährige in der Politik verhindern gekonnt jedwede Verschärfung. Daran konnten auch viele weitere Massaker - nicht nur an Schulen - seit 2002 nichts ändern.

Im Jahr 2016 gehörte Rowland zu den fast 200 namhaften Künstlern und Führungskräften der Musikindustrie, die einen Offenen Brief an den US-Kongress unterzeichneten. In diesem Brief, den das Billboard-Magazin organisiert hatte, fordern sie ein Ende der Waffengewalt, die mit der gezielten Tötung von Konzertbesuchern in einem Club in Orlando und bei einem Open-Air-Konzert in Las Vegas einen neuen, tragischen Höhepunkt erreicht hatte.

Schon im Jahr 2002 hatte Kelly Rowland den Song Stole veröffentlicht, der eine Schießerei an einer Schule zum Thema hat. Schießereien und Amokläufe finden in den U.S.A. leider häufiger statt und lösen jedes Mal aufs Neue Entsetzen aus. Der Amoklauf zweier Schüler an der 1999 an der Columbine High School in Littleton, Colorado markierte einen traurigen Höhepunkt. Möglicherweise ist Stole eine Reaktion auf diese unfassbare Tat.


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Im Liedtext legen die Autoren das Augenmerk sowohl auf den Amokläufer, als auch auf die zwei jugendlichen Opfer. Dies geschieht insgesamt auf überzeugende Art und Weise, auch wenn man kritisch anmerken darf, dass die Schilderung des namenlosen Täters als rücksichtsvollen, intelligenten, aber oft auch durch seine Mitschüler gemobbten Schüler, der durch den Amoklauf ins Rampenlicht strebt, dem oft dargestellten Bild eines Amokläufers entspricht und in dieser Hinsicht ein wenig klischeehaft geraten ist. Auch die im Liedtext aufgebrachte Frage, ob man zu dem Täter vielleicht hätte vordringen können und die Tat damit hätte verhindern können, wenn man sich besser um ihn gekümmert hätte, ist müßig und letztlich nicht zu beantworten. Und im Umkehrschluss sind ja nicht alle Jugendlichen, die zornige Akkorde auf ihrer Gitarre spielen, verhinderte Amokläufer.

Besser gelungen ist in dieser Hinsicht die Charakterisierung der beiden fiktiven Opfer, die auf sehr empathische und gar nicht rührselige Weise geschieht, indem die Talente der jungen Menschen geschildert werden. Was sie im Leben mit diesen Talenten erreichen hätten können, wird ihnen durch den Tod weggenommen, also "gestohlen". Bei Mary ist es eine Karriere als Schauspielerin, die verhindert wird. Symbolisiert wird dies dadurch, dass sie gleich große Hände hat wie Marylin Monroe. Sie hat ihre Hände in die Handabdrücke Monroes gelegt, die wie die Hand- und Fußabdrücke vieler Schauspieler im Vorhof des Grauman's Chinese Theater in Los Angeles zu finden sind. Das Grauman ist ein Kino, das 1927 in Hollywood eröffnet wurde. Es wurde im Stil einer chinesischen Pagode erbaut und war Ort vieler Filmpremieren. Zwischen 1973 und 2001 hieß es Mann's Chinese Theater, und so wird es im Liedtext auch benannt.

Greg wiederum hätte eine Karriere als Basketballer machen können, ein Probetraining bei den Sixers, den Philadelphia 76ers war schon terminiert. Seine Sprungkünste werden im Liedtext mit denen von Kobe Bryant verglichen, dem US-amerikanischen Basketball-Superstar der späten 1990er bis 2010er Jahre, der Anfang 2020 zusammen mit seiner 13-jährigen Tochter und weiteren Freunden der Familie bei einem Hubschrauberabsturz nahe Los Angeles ums Leben kam.

Im Song wird diese Täter- und Opferschilderung konsequent getrennt und auf Strophen und Pre-Chorus (Täter) und Refrain (Opfer) verteilt. Dabei gibt es zwei musikalisch identische Refrains, einen für Mary und einen für Greg. Die Trennung von Täter und Opfern wird auch musikalisch durch eine unterschiedliche Gestaltung von Strophen und Refrain unterstrichen.

Die Strophen, die einstimmig gesungen werden, und der Pre-Chorus, der als gesangliches Wechselspiel angelegt ist, basieren auf einem ständigen Wechsel zweier Akkorde (Cmaj7 und A7(9)). Die Melodie ist dabei wenig charakteristisch und besteht aus einem steten Aneinanderreihen von ähnlich klingenden kurzen Melodiephrasen hauptsächlich im Dreitonraum, aus denen Rowland im Verlauf immer wieder kurz nach oben ausbricht. Die Schilderung des Täters wirkt dadurch etwas lapidar und eher emotionslos. Ganz anders der Refrain, der in g-Moll steht und somit eine ganz andere Klangwelt öffnet. Dies wird unterstützt durch einen vielfältigeren Gebrauch von Akkorden, eine reichere Instrumentation, eine eingängigere Melodie und den für Kelly Rowland typischen mehrstimmigen und mittels Overdubbing mehrmals gedoppelten Close-Harmony-Gesang.

Mögen solche Kontraste zwischen Formteilen den üblichen Arrangiergewohnheiten entsprechen, so kann man bei Stole durchaus argumentieren, dass diese bewusst zur Unterstreichung der textlichen Aussage eingesetzt werden. Auch die im R'n'B üblichen vokalen Ad-libs Rowlands im Refrain wirken hier durch ihre hohe Emotionalität durchaus intensiver als in anderen, vergleichbaren Songs und unterstreichen somit die Textaussage.

Ebenso emotional wie Rowland singt wird im Internet die Tatsache diskutiert, dass das zum Song produzierte Video eine ganz andere Geschichte erzählt. Der Grund hierfür dürfte wohl sein, dass man keine filmische Darstellung eines Amoklaufs an einer Schule drehen wolle, um nicht die Blaupause für weitere solche Gewalttaten zu liefern. Das ändert aber nichts daran, dass es im Song definitv um eine Schießerei an einer Schule geht, auch wenn dies aufgrund des Videos oft angezweifelt wird. Kelly Rowland hat sich zur Diskrepanz zwischen Song und Video folgendermaßen geäußert:

"It talks about three different scenarios with young people, and it tells a story about each of their lives and what they go through and how their lives were taken away from them. What I really love is that the song and the video really go hand in hand." (2)

Dass Song und Video Hand in Hand gehen, wie Rowland meint, erscheint mehr als zweifelhaft, und somit ist ihre Erklärung auch nicht besonders erhellend. Hier wurde wohl eher mühevoll etwas zurechtgezimmert, was von vornherein nicht passen konnte. Und die Schlussfolgerung? Manchmal wäre es vielleicht ganz gut, einen Song einfach als Song stehen zu lassen. Ohne Video. Punkt.

(1) Karasin, Ekin. 'It's so frustrating being an American': Kelly Rowland breaks down in tears as she discusses gun violence and the message behind her 2002 song Stole. Daily Mail Australia, 17.5.2019. Abgerufen am 29.3.2020.
(2) Zitiert nach: http://edition.cnn.com/2003/SHOWBIZ/Music/01/23/mroom.rowland/index.html. Abgerufen am 29.3.2020.

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  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.