1974
Als Hurrikan Katrina im Sommer 2005 über New Orleans, die Wiege des Jazz, hinwegfegte, brachen an mehreren Stellen die Dämme und die Stadt versank zum größten Teil in den braunen Fluten. Tausende von Bewohnern warteten verzweifelt darauf evakuiert zu werden. Doch vor allem im tief gelegenen und deshalb besonders betroffenen Stadtteil Lower Ninth Ward, der zu 90% von Afro-Amerikanern bewohnt wurde, mussten die Bewohner besonders lange auf Rettung warten. Die weißen Bewohner der nicht so stark betroffenen Stadtteile waren zu dieser Zeit längst in Sicherheit, so dass man das Gefühl nicht los bekam, dass von offizieller Seite nicht alles unternommen wurde, um die afro-amerikanische Bevölkerung schnell aus ihrem Leid zu erlösen.
Die Afro-Amerikaner sahen sich aufs Neue darin bestätigt, immer noch Menschen zweiter Klasse zu sein, insbesondere im von seinen sklavischen Traditionen geprägten Süden der USA. In Situationen wie diesen merke man, dass in den Köpfen der Menschen im Süden altes Denken immer noch vorhanden sei.
Diese Einschätzung ist nicht neu. So sang der kanadische Sänger Neil Young 1970 sein Lied vom Southern Man, das er auf der LP After The Goldrush veröffentlichte. Darin äußerte er sich in ziemlich deutlichen Worten zur Diskriminierung der Afro-Amerikaner, und griff dabei Bilder aus der Vergangenheit auf, wie zum Beispiel die brennenden Kreuze, das Symbol des Ku Klux Klans, oder die Peitschen der Sklavenhalter. Dass er sich damit bei vielen weißen Bewohnern des Südens nicht beliebt machte, war ihm sicherlich sehr wohl bewusst. Trotzdem, oder gerade deshalb, legte er zwei Jahre später noch mit dem Song Alabama vom Album Harvest nach.
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Im Jahr 1974 kam dann die musikalische Reaktion von der aus dem Norden Floridas stammenden Südstaatenband Lynyrd Skynyrd. Sweet Home Alabama hieß der Song, in dem Neil Young namentlich erwähnt und ein direkter Bezug zu seinen südstaaten-kritischen Songs, vor allem zu Southern Man hergestellt wurde. Man kann diesen Bezug auch hören, denn direkt nach der Erwähnung von „I heard Mister Young sing about her“ (1) singt jemand im Hintergrund ganz leise „Southern Man“. Das folgende "A Southern Man don't need him around anyhow." (2) ist eine deutliche Ansage, mit der Neil Young zur persona non grata in den Südstaaten erklärt wird.
Rückblickend stellten alle Beteiligten, auch Neil Young, die Geschichte allerdings als Spaß dar und betonten in verschiedensten Interviews, dass sie sich gegenseitig respektierten und schätzten. Ronnie van Zant, der Leadsänger von Lynyrd Skynyrd, lief sogar oft im Neil-Young-T-Shirt durch die Gegend. Und Neil Young legt Wert darauf, dass er den Song schon einige Male selbst aufgeführt hat (3). Nun ist es ja leicht, im Nachhinein alles als Spaß zu deklarieren. Das Problem liegt wohl eher darin, dass vielen Lynyrd-Skynyrd-Fans in den Südstaaten dieser angebliche humoristische Unterton entgangen sein dürfte. Dafür sorgten Lynyrd Skynyrd allerdings auch selbst, indem sie ihre Konzertauftritte stets vor der Confederate Flag absolvierten und sich damit politisch und gesellschaftlich eindeutig positionierten.
Die Confederate Flag ist die Flagge der Konföderation, also der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg, der zwischen 1861 und 1865 tobte. Dieser blutige Konflikt entzündete sich vor allem an der Sklavenfrage, nachdem sich ursprünglich sieben südliche Bundesstaaten, darunter Alabama, von der Union losgesagt hatten, weil sie um ihr auf der Sklaverei beruhendes Wirtschaftsmodell fürchteten. Die Confederate Flag ist somit auf direkte Weise mit der Sklavenfrage verbunden und wird darum heute gemeinhin als Symbol für die Unterdrückung der afro-amerikanischen Bevölkerung verstanden. Dies wird auch dadurch gestützt und verstärkt, dass die Flagge immer wieder von rechten und ultra-rechten Gruppierungen benutzt wurde und wird.
Viele weiße Bewohner des Südens sehen die Flagge allerdings in einem anderen Kontext, nämlich als Symbol für das reichhaltige Erbe und die kulturelle Identität der Südstaaten, und damit unabhängig von der Frage der Rassentrennung. Wieso Lynyrd Skynyrd die Confederate Flag in dieser schwierigen Gemengelage einsetzten, ob aus Überzeugung oder weil ihnen dies ein gewisses Image gab und damit auch Erfolg bei den entsprechenden Zielgruppen bescherte, ist schwer zu sagen. Der andauernde Streit um die Deutungshoheit in Bezug auf die Flagge war dann aber sicherlich der Grund, warum Lynyrd Skynyrd 2012 schließlich verkündeten, die Flagge nicht mehr in ihren Konzerten zu benutzen. Nach empörten Reaktionen vieler ihrer Fans in den Südstaaten ruderten sie allerdings prompt wieder zurück.
Vor diesem Hintergrund ist es dann doch einigermaßen erstaunlich, dass der Song Sweet Home Alabama seinen musikalischen Reiz hauptsächlich aus der Verwendung afro-amerikanischer Versatzstücke zieht. Das beginnt mit der Melodie, deren rein pentatonische, also fünftönige Anlage auf afrikanische Ursprünge verweist (4) (In D-Dur, der Tonart von Sweet Home Alabama wären das die Töne d, e, fis, a, und h). Sie besteht im Grunde nur aus einer einzigen kurzen Phrase, die die fünf Töne absteigend anordnet (fis, e, d, h und a) und dieses Muster wie ein Bluesriff sowohl in den Strophen als auch im Refrain ständig wiederholt. Auch die Call & Response-Anlage des Refrains (gesungene Call-Phrasen, die instrumental beantwortet werden) verweist direkt auf afro-amerikanische Traditionen. Darüber hinaus stammen die musikalische Gestaltung der Riffs und Fills in Gitarre und Klavier, genauso wie der triolische Grundrhythmus direkt aus Blues und Gospel. Insbesondere das Klaviersolo ist hier herauszuheben - es besteht komplett aus dem Blues entlehnten Wendungen.
Man kann an dieser Stelle einwenden, dass die Rockmusik ohne afro-amerikanische Einflüsse im Allgemeinen und dem Blues im Speziellen gar nicht in dieser Form existieren würde. Allerdings wird Sweet Home Alabama so von diesen Blues-Einflüssen dominiert, dass man das Gesamtpaket durchaus kritisch sehen darf.
Inhaltlich in eine komplett andere Richtung geht die letzte Strophe von Sweet Home Alabama, in der die Musiker vom Muscle Shoals Sound Studio gewürdigt werden. Die wirkten ähnlich wie die Funk Brothers bei Motown in Detroit als Rhythmusgruppe quasi anonym auf vielen Aufnahmen erfolgreicher Künstler wie Paul Simon, den Rolling Stones oder Aretha Franklin mit und kreierten dabei den wiedererkennbaren Muscle Shoals Sound, eine Mischung aus Soul, R&B und Country. Auch Lynyrd Skynyrd hatten in diesem Studio, das in Sheffield, einer Nachbargemeinde von Muscle Shoals im Norden Alabamas angesiedelt war, Aufnahmen gemacht und die Musiker und die Studioatmosphäre dort zu schätzen gelernt. Durch die Erwähnung dieser fantastischen Musiker mit ihrem Spitznamen „the Swampers“ setzten ihnen Lynyrd Skynyrd ein bleibendes klingendes Denkmal.
(1) King, Edward; Rossington, Gary; van Zant Roland. Sweet Home Alabama. Liedtext. Universal Music
Corporation, 1971.
(2) ebda.
(3) https://www.songfacts.com/facts/neil-young/southern-man. Abgerufen am 010.3.2023.
(4) Die Pentatonik ist eine in vielen Kulturen beheimatet Tonleiter und ist nicht auf Afrika begrenzt.
Die Bluestonleiter ist im Grunde eine pentatonische Tonleiter, bei der zu den fünf Tönen der
Pentatonik noch die kleine Terz als Blue Note hinzugefügt wird (in D-Dur der Ton f).
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