Wham!: Last Christmas

Der omnipräsente und unvermeidliche Weihnachts-Hit aus dem Kinderzimmer

"It was a moment of wonder." (1) Man muss Andrew Ridgeley, George Michaels Duopartner im 80er-Jahre Popduo Wham! sicher zu Gute halten, dass er Ende 2017, als er diesen Satz sagte, noch ganz unter dem Eindruck des frühen und unerwarteten Todes seines Schulfeundes George Michael stand, der an Weihnachten 2016 gestorben war. Ridgeley beschrieb damit den Moment gut 33 Jahre zuvor, als George Michael ihm in Michaels elterlichem Zuhause zum ersten Mal Last Christmas vorspielte. Dass Ridgeley angesichts des Verlusts einen verklärenden Blick in die Vergangenheit wirft, mag wie schon erwähnt verständlich sein. Dennoch findet in Sätzen wie "George had performed musical alchemy, distilling the essence of Christmas into music." (2) eine Überhöhung des Schaffensprozesses und des Resultats ihren Ausdruck, die dem tatsächlichen Wert des Songs sicher nicht entspricht.

Viele Menschen, denen die schon lange vor dem eigentlichen Weihnachtsfest einsetzende Beschallung mit Last Christmas gewaltig an den Gehörnerven zerrt, werden sich sowieso wünschen, es hätte diesen "wunderbaren Moment" nie gegeben. Denn an kaum einem Song scheiden sich die Geister so heftig wie an Last Christmas. Zu dieser Polarisierung trägt sicherlich die alljährliche Omnipräsenz in den Medien schon lange vor Weihnachten bei. Doch diejenigen, die den Song überhaupt nicht mögen, argumentieren auch, es sei ja nicht einmal ein Weihnachtslied und sie haben damit auch völlig recht. Es sei denn, eine verlorene Liebe wäre die "Essenz von Weihnachten".

Egal wie man zu Last Christmas steht, dass der Song auch im zigten Jahr nichts von seiner Popularität um Weihnachten herum eingebüßt hat, zeigt, dass er etwas Besonderes haben muss. Andrew Ridgeley drückte das 2017 sehr treffend so aus: "As he [Michael] did so often, he touched hearts." (3)


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Last Christmas entstand an einem Sonntag Nachmittag im Februar 1984, als George Michael und Andrew Ridgeley in Michaels Elternhaus saßen. Laut Ridgeley (4) aßen sie und schauten The Big Match, eine Fernsehsendung mit Höhepunkten von Fußballspielen der englischen Football League, als George Michael sich in sein Kinderzimmer begab, weil er eine Idee hatte. Dieses Kinderzimmer war laut Ridgeley ausgestattet mit einem Keyboard und einem Aufnahmegerät. Es war der Ort, an dem George Michael und Andrew Ridgeley in ihren Jugendtagen zahllose Radiomitschnitte angefertigt und sich musikalisch ausgetobt hatten. Als George Michael circa eine Stunde später aufgeregt wieder nach unten kam, war Last Christmas schon sehr weit gediehen. Ridgeley folgte Michael ins Kinderzimmer, wo dieser ihm das instrumentale Intro und die Melodie des Refrains vorspielte.

1984, zur Zeit der Entstehung von Last Christmas, waren Michael und Ridgeley als Wham! auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, doch es hatte sich schon länger abgezeichnet, dass George Michael der kreative Kopf in der Band war. Er komponierte die meisten Wham-Titel im Alleingang und begann immer mehr, seine Ideen auch selbst im Studio umzusetzen. Genau das war auch bei Last Christmas der Fall. Was allerdings wirklich erstaunt, ist, dass George Michael alle Instrumente auf Last Christmas selbst einspielte. Die Aufnahme fand im August 1984 statt und außer George Michael waren nur noch der Tontechniker Chris Porter und zwei Assistenten in den Advision Studios in London präsent. Michael hatte das Studio weihnachtlich dekoriert und machte von nun an alles selbst. Allerdings musste er nicht viele Instrumente bedienen, denn es sind auf Last Christmas nur ein Roland Juno-60-Synthesizer, eine LinnDrum und die unvermeidlichen Schlittenglöckchen zu hören.

Die LinnDrum Digital Drum Machine war einer der ersten einigermaßen erschwinglichen Drumcomputer auf dem Markt, dessen Samples in den frühen 1980ern qualitativ ihresgleichen suchten. Außerdem war er außergewöhnlich einfach zu bedienen, so dass man keine großen Kenntnisse technischer Natur benötigte. Wenn man wusste, wie ein Drum Groove grundsätzlich funktioniert, konnte man auf der LinnDrum sofort loslegen.

Die LinnDrum hatte für jeden Drum Sound eine Taste, über die man digitale Samples von Drum Sounds abrufen konnte. Neben den Instrumenten des Drum Set (Bass Drum, Snare Drum, Rim Shot auf der Snare Drum, Hi-Hat, Crash Becken, Ride Becken, drei Toms) beinhaltete die LinnDrum auch Percussion: Cabasa, Tambourin, eine hohe und eine tiefe Conga, Cowbell und Hand Clap. Bis zu 12 dieser Sounds konnten nacheinander oder gleichzeitig gespielt und standardmäßig als zweitaktiger Loop gespeichert werden (im Grunde wie bei einer modernen Loop Station). Über 49 Memory Slots konnten verschiedene zweitaktige Loop-Patterns zu einem Song arrangiert werden. Viele weitere Funktionen wie Quantisierung, also die automatische rhythmische Begradigung, oder das Umwandeln von in geraden Achteln gespielten zu triolischen Shuffle-, beziehungsweise Swing-Grooves machten die LinnDrum zu DEM Drum Computer der 1980er Jahre, der auf endlos vielen Hits der damaligen Zeit zu hören ist.

Man muss konstatieren, dass sich George Michael intensiv mit der LinnDrum auseinandergesetzt haben muss. Denn bei Last Christmas fallen die ungewöhnlich vielen Snare Drum Fills auf, die den ganzen Song durchziehen, dabei allerdings etwas mechanisch wirken - man merkt hier dann doch, dass kein richtiger Drummer am Werk war. Schlagzeug-Fills werden normalerweise zur formalen Gliederung benutzt, zum Beispiel am Übergang eines Formteils in einen anderen. Dies sind in der Popmusik in der Regel acht-, sechzehn- oder zweiunddreißigtaktige Abschnitte. Bei Last Christmas kommen diese Fills aber in ungewöhnlicher Häufung schon nach zwei oder spätestens vier Takten. Es handelt sich dabei um sechs verschiedene Fills von unterschiedlicher Länge, von denen vor allem die zwei ganztaktigen Fills ins Ohr stechen. Jeder der sechs Fills kommt zwischen fünf und elf Mal vor, im Gesamten sind es 39 Drum Fills. Die Reihenfolge der Fills ist festgelegt und wird immer wieder wiederholt. Diese Snare Drum Fills verleihen dem Song sein ganz eigenes, mit kaum einem anderen Popsong vergleichbares Gepräge.

Für die harmonische Basis des Songs griff George Michael auf einen in der populären Musik im Überfluss vorkommenden Turnaround zurück. Als Turnaround bezeichnet man in der Musik eine Folge von vier Akkorden mit den Tonstufen I - VI - II - V (In der Tonart von Last Christmas, D-Dur, wären das D-Dur - H-Moll - E-Moll - A-Dur). Bei Last Christmas bleibt jeder dieser vier Akkorde zwei Takte lang liegen, wodurch sich ein achttaktiger Ablauf ergibt, der den ganzen Song über unverändert bestehen bleibt. Trotz der Allgegenwart dieser Akkordfolge hat Last Christmas einen speziellen, sofort erkennbaren Sound. Das liegt unter anderem daran, dass George Michael bei diesem einfachen Turnaround ausgiebigen Gebrauch von Vorhaltsbildungen macht.

Vorhalte in der Musik sind akkordfremde Töne, die auf einer betonten Zählzeit stehen und sich in der Regel einen Ton nach oben oder unten zu einem Akkordton auflösen. In D-Dur könnte also der Ton d entweder durch ein e oder durch ein cis vorgehalten werden. Genau dies passiert in den ersten sechs Takten des Refrains von Last Christmas immer auf Schlag 1 des Taktes. In den ersten beiden Takten wären also "Last Christ-" und "gave you" (Ton e) Vorhalte, und "-mas" und "my heart" (Töne d, fis und wieder d) Dreiklangstöne.

Das Besondere ist nun, dass die Begleitakkorde diese Vorhalte ausharmonisieren. Das bedeutet, dass der Ton e bei "Last Christ-" nicht mit einem D-Dur-Dreiklang begleitet wird, sondern mit einem A-Dur-Dreiklang, da der Ton e in diesem enthalten ist. Es klingt also zu Beginn A-Dur über dem Basston d. Dieser mehrfache Wechsel der beiden Akkorde A-Dur und D-Dur über dem konstanten d im Bass ist verbunden mit einem zweitaktigen, sich ständig wiederholenden rhythmischen prägnanten Pattern. Diese Akkordwechsel wiederholen sich nun bei allen drei restlichen Akkorden des Turnarounds (H-Moll, Vorhaltsakkord A-Dur - E-Moll, Vorhaltsakkord D-Dur - A-Dur, Vorhaltsakkord H-Moll), so dass sich ein achttaktiger, den ganzen Song über beibehaltener Ablauf ergibt.

Diese Vorhalte kommen auch in einem anderen Song vor, der einen Turnaround als harmonische Grundlage hat: David Martins Komposition Can't Smile Without You aus dem Jahr 1975, die es drei Jahre später in der Version von Barry Manilow in die vorderen Plätze der Hitparaden schaffte. Die Melodie von Can't Smile Without You besitzt auch durchaus Ähnlichkeiten mit Last Christmas, was die Rechteinhaber dazu veranlasste, eine Plagiatsklage anzustrengen. Diese hatte vor Gericht jedoch keine Chance, da die beklagte Seite ungefähr 60 Songs mit einem Turnaround als Basis und einer ähnlichen melodischen Gestaltung nachweisen konnte.

So bleibt Last Christmas im alleinigen Besitz George Michaels und egal, ob man Last Christmas nun liebt oder hasst, muss man die kreative Leistung George Michaels anerkennen. Er wurde zu den Zeiten von Wham! als gut aussehender Sonnyboy mit der ausdrucksstarken Stimme, der die Menschen emotional erreichen konnte und heute immer noch kann, in seinen kreativen Fähigkeiten wohl unterschätzt. Dennoch ist Last Christmas nur ein richtig gut gemachter Popsong, und keine "musikalische Alchemie". Auch wenn Andrew Ridgley das so sehen möchte.

(1) Ridgeley, Andrew. George Michael's bandmate ANDREW RIDGELEY says he shed an ocean of tears for his dearest friend – and tells why Christmas meant so much to them. https://www.dailymail.co.uk/news/article-5163301/ANDREW-RIDGELEY-shed-ocean-tears-George-Michael.html. Abgerufen am 8.3.2024.
(2) ebda.
(3) ebda.
(4) Smooth Radio: The Story of… ‘Last Christmas’ by Wham! with Andrew Ridgeley. https://www.youtube.com/watch?v=4Va5Rt6_2q0. Abgerufen am 10.3.2024.

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  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.