1983
Als Mike Oldfield am Nachmittag des 8. Dezember 1980 in New York aus dem Flugzeug stieg, ahnte er noch nicht, dass dies ein Abend werden sollte, der Entsetzen in der Welt auslösen würde. Oldfield quartierte sich im Virgin Records House in der Perry Street ein, nur wenige Blocks entfernt vom Dakota Building.
Am selben Abend, gegen 22:50 Uhr trafen John Lennon und seine Frau Yoko Ono vor dem Dakota Building, wo sie wohnten, ein. Sie hatten den späten Nachmittag und Abend im Aufnahmestudio verbracht. Als sie dorthin aufgebrochen waren, war ein Mann auf sie zugetreten. Er hatte Lennons neuestes Album Double Fantasy dabei und bat John Lennon, dieses zu signieren. Lennon wechselte ein paar freundliche Worte mit ihm und signierte das Album. Dabei wurde er vom Lennon-Fan und Fotografen Paul Goresh fotografiert. Es sollte das letzte Foto Lennons sein.
Der offenbar geistig verwirrte Mark Chapman hatte schon den ganzen Tag vor dem Dakota-Building verbracht. Nachdem er sein Autogramm bekommen hatte, wartete er geduldig. Er stand er noch immer im Schatten des Torbogens als Yoko Ono und Lennon ihre Arbeit im Aufnahmestudio beendet hatten und nach Hause zurückkehrten. Sie stiegen vor dem Dakota Building aus dem Auto und liefen zum Eingang. Als sie Chapman passiert hatten, feuerte dieser von hinten insgesamt fünf Schüsse aus einem Revolver auf Lennon ab, von denen vier Lennon in den Rücken trafen. Eine Kugel zerfetzte die Aorta, die anderen drangen in Lunge und Schulter ein. Lennon, der sich stark blutend noch bis zum Eingang schleppte, wurde von schnell alarmierten Polizeibeamten ins Krankenhaus gefahren, wo er beim Eintreffen kurz nach 23 Uhr für tot erklärt wurde.
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Chapman blieb auch nach den Schüssen vor Ort. Er hatte den Revolver auf den Boden gelegt und hielt ein Exemplar des Romans The Catcher In The Rye von J. D. Salinger in den Händen. Von den eintreffenden Polizeibeamten ließ er sich widerstandslos festnehmen.
Die Nachricht von Lennons Ermordung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Schon bald versammelten sich viele Menschen in New York vor dem Dakota Building und vor dem Krankenhaus, weinten, sangen Lennon-Songs und spielten diese von Kassettenrecordern. Alle waren schockiert ob der Sinnlosigkeit dieses Verbrechens. Ob sich Mike Oldfield an diesem Abend unter den Trauernden befand, ist nicht bekannt. Aber die Aufregung wird ihm nicht entgangen sein.
Ungefähr drei Jahre später erschien Mike Oldfields Moonlight Shadow, einer seiner größten kommerziellen Erfolge. Als Sängerin hatte Oldfield, der sich selbst mehr als Instrumentalist als Sänger betrachtet, Maggie Reilly engagiert. Diese sang nun Textzeilen, die aus der Perspektive einer Frau von einem Mord berichten, bei dem ein Flüchtender sechs Schüsse auf einen Mann abgibt und sie, die sie nur die Silhouette einer Waffe gesehen hatte, nun nicht weiß wie es weitergehen soll. Dazu der Hinweis, dass man sich eines Tages im Himmel wiedersehen würde. Bald schon begannen Spekulationen darüber, ob es sich bei diesen Zeilen um die Ermordung John Lennons handeln könnte.
Immer wieder wird dabei darauf verwiesen, dass die Schilderung in Moonlight Shadow ja gar nicht den historischen Tatsachen entspräche. Es seien ja keine sechs, sondern nur fünf Schüsse gewesen, außerdem sei Mark Chapman ja gar nicht "on the run" gewesen, sondern hätte am Tatort gewartet. (1) Diese Form der Argumentation ist natürlich nicht besonders sinnhaft, da Oldfield in seinem Liedtext ja genau diese historische Genauigkeit nicht anstrebt. Im Gegenteil, wie ganz viele Autoren nimmt er Dinge auf, verarbeitet sie innerlich und bringt sie in einer künstlerischen, oft sehr verklausulierten Art und Weise als Liedtext an das Tageslicht.
So ähnlich stellt es Oldfield in einem Interview aus dem Jahre 1995 (2) dar, in dem er den Einfluss von Lennons Tod auf Moonlight Shadow zwar grundsätzlich bestätigt, aber gleichzeitig darauf hinweist, dass der Einfluss wahrscheinlich eher unterbewusst geschehen sei. Hauptinspirationsquelle war demnach der Film Houndini aus dem Jahr 1953, ein filmisches Porträt des legendären Entfesselungskünstlers Harry Houndini. Houndini, 1874 in Ungarn geboren, war zu Beginn des 20. Jahrhundert zuerst in Europa, dann in den USA erfolgreich und begeisterte die Menschen durch seine Fähigkeit, allen Fesseln, Handschellen oder Zwangsjacken zu entkommen, oft unter lebensgefährlichen Bedingungen unter Wasser.
Im Film werde, so Oldfield, versucht, auf spirituelle Weise Kontakt mit dem verstorbenen Houndini aufzunehmen. Dies sei das eigentliche Thema von Moonlight Shadow, obwohl sicher noch viele andere Dinge eine Rolle gespielt hätten ohne dass er sich dessen bewusst gewesen wäre. (3)
(1) Auch die englische
wikipedia-Seite zu
Moonlight Shadow ergeht sich genüsslich in der Aufzählung
der nicht übereinstimmenden Details.
(2) Zitiert nach: Randall, Gareth. Gareth Randall
interviews Mike Oldfield, 1. Juni 1995.
(3) ebda.
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