Simple Minds: Belfast Child

Wenn die Kinder nicht mehr singen - die Simple Minds über den Religionskonflikt in Nordirland

Es fällt schwer sich vorzustellen, was es in den 1970er- und 1980er-Jahren während der schlimmen Phase des Nordirlandkonflikts wohl bedeutete, in Belfast zu leben. Fährt man heutzutage durch Belfast, fällt die Vergangenheit im Zentrum der Stadt gar nicht auf. Das Leben pulsiert in der Innenstadt wie in den anderen Städten Irlands auch. Nur in den Vororten ist das Erbe noch deutlich sichtbar, vor allem an den allgegenwärtigen "Murals", den Wandzeichnungen, die die religiöse und politische Ausrichtung der jeweiligen Gegend demonstrieren.

In manchen dieser Vororte, dort wo die Wohnviertel der beiden Religionsgruppen, der Katholiken und der Protestanten, direkt aneinandergrenzen, sind auch heute noch die unterschwelligen und manchmal auch noch kurz aufflackernden alten Ressentiments und der alte Hass zu bemerken. Trotz allem, wie gesagt, kein Vergleich zum Belfast von damals zur Zeit des Terrors, der Bomben und der offenen Gewalt in Nordirland, die im englischen Sprachraum "the Troubles" genannt wird.

Belfast Child ist einer der zahlreichen Popsongs, die vom Nordirlandkonflikt handeln. Der Song entstand unter dem Eindruck eines Bombenanschlags der IRA, dem sogenannten Enniskillen Bombing, dem am 8. November 1987 in der nordirischen Stadt Enniskillen bei einer Gedenkfeier für Kriegsgefallene der britischen Armee 11 Menschen zum Opfer fielen und 63 Menschen verletzt wurden. Bei Belfast Child findet sich allerdings im Liedtext kein direkter oder indirekter Verweis auf die Bluttat in Enniskillen, anders als zum Beispiel bei Sunday, Bloody Sunday von U2, das schon im Titel auf den Blutigen Sonntag von 1972 verweist.

Mehr über die Entstehung und die Hintergründe des Nordirlandkonflikts finden sich bei der Besprechung des U2-Songs Sunday, Bloody Sunday hier auf den Popsong-Seiten.


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Stattdessen liefern die Simple Minds eine atmosphärische Beschreibung des Zustands der Stadt. Sie schildern Belfast als einen Ort, an dem die Kinder nicht mehr singen, was für den Verlust von Lebensfreude und kindlicher Unschuld verstanden werden kann. Es ist aber auch ein Bild dafür, dass viele junge Menschen keine Perspektive mehr in der Stadt sehen und sie verlassen. So ruft Jim Kerr, der Leadsänger der Simple Minds, im Liedtext auch die jungen Menschen auf, in die Stadt zurückzukehren, um ihr wieder eine Zukunft zu geben. Mit der Schlusszeile "One day we'll return here when the Belfast Child sings again" (1) wird die Hoffnung verbunden, dass eine Zukunft der Stadt vorstellbar scheint, wenn der unsägliche Konflikt eines fernen Tages beendet sein wird.

Belfast Child war in Europa sehr erfolgreich und kletterte in England, Irland und den Niederlanden auf Platz 1 der Charts. Allerdings stieß Belfast Child nicht überall auf positive Resonanz. So wurden die Simple Minds dafür kritisiert, dass der Song allzu pathetisch und emotional daherkäme, der Liedtext nicht tiefgründig, sondern schlicht klischeehaft sei, und die Simple Minds als schottische Band sowieso nichts davon wüssten, was in Belfast wirklich vorgehe.

Dabei tut man der Band sicherlich Unrecht, denn es war ihnen damals ein echtes Anliegen, der Betroffenheit über diesen mitten in Europa tobenden Konflikt Ausdruck zu geben. Außerdem lässt man dabei außer Acht, dass Belfast Child in das Album Street Fighting Years eingebettet war, das sich mit damals aktuellen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzte. Der Titelsong Street Fighting Years ist dem vom Regime ermordeten chilenischen Sänger Victor Jara gewidmet, und sowohl Mandela Day wie das Cover von Peter Gabriels Biko thematisieren das Apardheitsregime Südafrikas.

Hinzu kommt, dass Jim Kerr familiäre Verbindungen nach Nordirland hat, da die Familie seines Vaters ursprünglich von dort kommt. Zusätzlich sorgen die Simple Minds musikalisch für Authentizität, indem sie die Melodie eines bekannten irischen Volkslieds mit dem Titel She moved through the Fair zitieren. Irische Anklänge finden sich auch in der Verwendung der für die irische Volksmusik typischen Tin Whistle, einer kleinen, ursprünglich aus Weißblech gefertigten Flöte, der Bodhrán, einer mit einem Holzschlägel gespielten Rahmentrommel, und dem Akkordeon als weiterem folkloristischen Instrument.

Formal besitzt Belfast Child eine für einen Pop- und Rocksong ungewöhnliche Anlage: Der Song besteht aus zwei musikalisch sehr unterschiedlichen Abschnitten, die durch eine gemeinsame harmonische Basis miteinander verbunden werden und so trotz ihrer Unterschiedlichkeit einheitlich wirken. Der erste Abschnitt verwendet zwei neu textierte Strophen von She moved through the Fair. Er hat einen getragenen und melancholischen Charakter, der durch eine flächige und ruhige Streicherbegleitung und teilweisen a-cappella-Gesang musikalisch unterstrichen wird. Hier kommt auch die Tin Whistle zum Einsatz, die in den kurzen instrumentalen Vor-, Zwischen- und Nachspielen Teile der Volksliedmelodie vorwegnimmt, beziehungsweise wiederholt.

Der zweite, sich stetig steigernde Abschnitt basiert auf einem mit der Bodhrán gespielten Trommelrhythmus, der durch weitere tiefe Schlaginstrumente punktuell verstärkt wird. Auch kommen ausschließlich tiefe Streichinstrumente zum Einsatz, wodurch insgesamt ein bedrohlich wirkender Klang mit einer quasi militärischen Komponente erzeugt wird. Dieser recht ausgedehnte Abschnitt steigert sich durch Hinzunahme weiterer Instrumente und einer immer intensiveren gesanglichen Gestaltung Jim Kerrs, bis er auf dem Höhepunkt abrupt abbricht.

Beendet wird Belfast Child durch eine Wiederaufnahme des Beginns, allerdings in einer stark gekürzten Form. Es wird im Grunde nur noch einmal die Refrainzeile von She moved through the Fair aufgegriffen, um den Song abzurunden und der oben geschilderten Hoffnung auf friedlichere Zeiten Ausdruck zu verleihen.

(1) Simple Minds. Liedtext zu Belfast Child. A&M Records, 1989.

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  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.