1987
Suzanne Vega war eine der erfolgreichsten Singer-Songwriterinnen der späten 1980er Jahre. Zusammen mit anderen Künstlerinnen wie Tracy Chapman oder Tanita Tikaram bereitete sie den Weg für Musikerinnen wie Alanis Morissette, Tori Amos, Sheryl Crow oder Paula Cole, die als Singer-Songwriterinnen das Genre in den 1990er Jahren prägten. Ihre Vorbilder hatte Suzanne Vega in der ersten Generation der Singer-Songwriter, für die der Terminus in den 1960er Jahren geprägt wurde. Als besonders wichtigen Einfluss für ihren Stil nennt sie Leonard Cohen.
Cohen war im Gegensatz zu vielen anderen Singer-Songwritern der 1960er Jahre in erster Linie kein politischer Sänger, sondern thematisierte auf poetische Art und Weise prägende persönliche Erlebnisse, oft melancholischen Charakters. Dies findet sich auch bei Suzanne Vegas Liedtexten, die eher introspektiv ausgerichtet sind und oft ganz alltägliche Situationen zum Anlass haben (siehe zum Beispiel Tom's Diner). Sie wagt sich allerdings auch an Themen, die in der Gesellschaft eher tabuisiert sind. Luka ist das beste Beispiel dafür.
Luka hat es geschafft, seit der Veröffentlichung 1987 auf dem Album Solitude Standing ununterbrochen im Radio präsent zu sein. Das ist durchaus bemerkenswert für einen Song, der Gewalt im häuslichen Milieu zum Thema hat. Doch davon merkt man beim oberflächlichen Hören nicht viel. Der Song hat einen fast schon optimistischen Grundcharakter und besitzt nicht viel von der Nachdenklichkeit anderer Songs von Vega. Das liegt an dem flotten Tempo, der zugrunde liegenden Durtonart, den über weite Strecken aufsteigenden Melodielinien und dem gefälligen Arrangement. Somit scheint die Musik nicht richtig zum Textinhalt zu passen. Doch worum geht es eigentlich?
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Suzanne Vega hat sich in verschiedenen Interviews recht ausführlich zu Inhalt und Entstehungsgeschichte geäußert. Demnach wurde sie von einem neunjähirgen Jungen aus ihrer Nachbarschaft zu dem Song inspiriert. Dieser wohnte auch im wirklichen Leben eine Etage über ihr. Sie wurde auf ihn aufmerksam, als sie ihn beim Spielen mit anderen Kindern beobachtete und feststellte, dass er eine Art Außenseiterrolle einnahm. Vega betonte in ihren Interviews (1), dass er nicht wirklich unglücklich gewirkt habe, sie aber nicht viel über ihn gewusst habe. Tatsache aber ist, dass der wirkliche Luka nicht das Schicksal des Song-Lukas teilte: "There was a boy whose name was Luka who lived upstairs from me, who seemed like a happy child. Not exactly happy, but he was not abused, as far as I knew".
Im Song wird Luka aber misshandelt. Er wird geschlagen, ohne einen wirklichen Grund erkennen zu können und fragt sich, ob er zu unbeholfen und zu schusselig ist, zu laut spricht, ein bisschen verrückt ist oder sich zu stolz geriert. Vega singt den Song aus der Perspektive des Jungen und lässt den Zuhörer so nicht nur am Schicksal des Kindes teilhaben, sondern zieht ihn quasi in die Geschichte und somit auch in die Verantwortung mit hinein. Man frägt sich instinktiv, wie man in solch einer Situation eigentlich handeln sollte, käme man eines Tages in diese Bredouille. Die Anweisung gibt der virtuelle Luka zwar gleich mit: "just don't ask me what it was", "it's not your business anyway", "I guess I'd like to be alone", "just don't ask me how I am", was aber sicher eher zum Selbstschutz dient.
Dazu passt nun auch wieder die quasi-fröhliche Musik, die nichts weiter als eine Fassade darstellt, hinter der sich das wirklich Tragische verbirgt. Der lapidare Tonfall in Melodie und Singstimme ist der Schutzwall, der aufgebaut wird, um die Wahrheit nicht ans Licht zu lassen. Dies ist ein sehr gelungener Kunstgriff, der allerdings gleichzeitig auch eine Gefahr darstellt, wie der kommerzielle Erfolg des Songs beweist. Durch die Hittauglichkeit und die Präsenz in den Formatradios ist den wenigsten Zuhörern heute der Inhalt des Songs überhaupt bekannt und Suzanne Vega hat ihr Ziel, den Hörer einzubeziehen und ihn zum Nachdenken zu bringen, nur bedingt erreicht: "You're unfolding this story that can't really be told and you're involving the audience in it and that was what I wanted to do", wobei Vegas Fans und Konzertbesucher sicherlich wissen, was hinter dem Song steckt.
Der Real-life-Luka trug im Übrigen, wie Suzanne Vega betont, keine Schäden oder Traumata davon, weder - wie schon erwähnt - durch seine Eltern, noch durch seine unfreiwillige Popularität. Irgendwie klingt es aber auch wie eine späte Rechtfertigung, wenn Suzanne Vega sagt:
"I heard from my old roommate who said that, he had come back to my old apartment with a girl when I guess that he must have been fifteen or sixteen by the time the song was really big. And he asked my roommate, "Would you please, tell this girl that Suzanne Vega really did live here." So he DID know that I lived downstairs. He didn't seem traumatized by it. He was using it to get girlfriends as far as I could see."
(1) Alle Zitate von: http://rustedpipe.vega.net/luka.htm
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