La plus que lente

Stilistische Einordnung

Im Jahr 1910 schrieb Debussy diesen Walzer, der so gar nicht recht in die stilistische Entwicklung des Komponisten passen will. Tendiert er doch zu sehr in Richtung Salonmusik, als dass er mit den anderen Werken dieser Jahre, vor allem dem anspruchsvollen ersten Band der Préludes in Einklang zu bringen wäre. Als Salonmusik können nämlich höchstens seine frühen Klavierstücke angesehen werden.

Debussyscher Humor

Es ist anzunehmen, dass Debussy es mit dieser Komposition nicht ganz so ernst gemeint hat. Debussyscher Humor, der in seinem Werk immer wieder zu finden ist - wie zum Beispiel im Mittelteil von Golliwog's Cakewalk aus Children's Corner - ist der Satire ziemlich nahe. Schon der Titel von "La plus que lente" deutet darauf hin. Ein "valse lente", ein langsamer Walzer, war damals bei Zuhörern wie Tänzern sehr beliebt und wurde von Debussy zu "La plus que lente", zu deutsch "der langsamste (Walzer)" umbenannt.

Ein weiterer Hinweis findet sich in der Version für Salonorchester, die Debussy selbst angefertigt hat. Diese Orchestration wird von ihm selbst als "à la Bierstube" bezeichnet.

Auch im Notentext selbst finden sich einige Hinweise darauf, dass es sich hier hauptsächlich um eine Parodie handelt. Die auffallende Häufung von rubato-Vorschriften, ritardandi und ähnlichem verweist auf in romantischem Geist komponierte Salonmusik. Auch im Thema selbst zwinkert Debussy sozusagen mit den Augen. Betrachten wir zuerst die Melodie.

Notenbeispiel 1: La plus que lente, Hauptthema, T. 1-4, MelodieLa plus que lente Notenbeispiel 1

Analysiert man die Melodietöne, so erscheint eine Harmonisierung des Themas in Des-Dur als sinnvoll. Diese könnte bei einem Walzer etwa so aussehen:

Notenbeispiel 2: La plus que lente, Hauptthema, T. 1-4, fiktive HarmonisationLa plus que lente Notenbeispiel 2

Stattdessen bekommt der Zuhörer von Debussy folgendes vorgesetzt:

Notenbeispiel 3: La plus que lente, Hauptthema, T. 1-4La plus que lente Notenbeispiel 3

Debussy setzt der Melodie in Des-Dur eine Walzerbegleitung in ges-Moll entgegen - eine bewusst "schiefe" Harmonisierung. Dies geschieht absichtlich und ist ironisch zu verstehen, da in einem Walzer eine Melodie nie so harmonisiert werden würde. Bei der Wiederaufnahme des Themas nach dem Mittelteil findet sich wieder ein anderes Bild:

Notenbeispiel 4: La plus que lente, Hauptthema, T. 105-107La plus que lente Notenbeispiel 4

Debussy harmonisiert die Melodie nun mit einem Des7-Dominantseptakkord - konsonanter als der Beginn, aber auch fast sechs Takte auf der Dominante sind eine ungewöhnliche harmonische Variante. Bei der letzten Version des Themas erscheint noch eine weitere Harmonisation:

Notenbeispiel 5: La plus que lente, Hauptthema, T. 120-123La plus que lente Notenbeispiel 5

Durch die Verwendung von Ges-Dur und die Melodietöne f und as entsteht ein Gesmaj7(9)-Akkord und somit eine im Impressionismus häufig verwendete Klangwirkung. Diese Variante unterscheidet sich von der ersten Harmonisation (Notenbeispiel 3) nur durch die Durterz "b" im Gegensatz zur Mollterz "heses". Debussy rückt also die bewusst "schiefe" Harmonisierung des Beginns zurecht.

La plus que charmante

Auch wenn "La plus que lente" von vielen Debussykennern als unbedeutendes Werk angesehen wird, ist der Charme, den dieses Stück versprüht, beachtenswert. Außerdem finden sich hier auch die für Debussy typischen raffinierten Klangwirkungen, die sicherlich den Reiz des "langsamsten Walzers" erklären.

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  © 2023 by Jochen Scheytt

Die deutschen Debussy-Seiten sind der umfangreichste Überblick über Debussys Leben und Schaffen in deutscher Sprache im Internet.

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.