"Voiles" ist eine der bemerkenswertesten Klavierkompositionen Debussys, vielleicht auch die am meisten Strapazierte, denn sie besitzt eine seltene Konsequenz in der Auswahl der für die Komposition zur Verfügung stehenden Töne. Darum wird sie immer wieder als erstes hergenommen, um Debussys Harmonik zu erklären. Dabei ist sie in ihrer Einheitlichkeit gar nicht sonderlich typisch, sondern stellt eher einen Sonderfall dar. Debussy benutzt nämlich im ganzen Stück nur zwei Skalen, die Ganztonleiter und die Pentatonik. Diese sind fest an die drei Formteile geknüpft:
Teil | Takte | Tonmaterial |
---|---|---|
A | Takt 1-41 | Ganztonleiter |
B | Takt 42-47 | Pentatonik |
A' | Takt 48-65 | Ganztonleiter |
Die Ganztonleiter ist - wie der Name schon sagt - eine Tonleiter, bei der die Abstände zwischen den einzelnen Tönen ausschließlich Ganztöne sind. Aus diesen Abständen ergibt sich eine Tonleiter mit sechs verschiedenen Tönen. Mit dem Schlusston besteht die Ganztonleiter also aus insgesamt sieben Tönen.
Notenbeispiel 1: Ganztonleiter, Schreibweise mit Kreuzen
Notenbeispiel 2: Ganztonleiter, alternative Schreibweise mit b
Um zu ermessen was es bedeutet, wenn man mit der Ganztonleiter komponieren möchte, muss man folgendes bedenken: Musik ist normalerweise mehrstimmig, es erklingen also mehrere Töne gleichzeitig. Diese stehen in einem bestimmten Abstand zueinander, der einen bestimmten Klang besitzt, ein so genanntes Intervall. Spielt man nun mehrere Töne der Ganztonleiter gleichzeitig, sind aufgrund des ausschließlichen Vorhandenseins von Ganztonabständen (und damit verbunden des Fehlens von Halbtonabständen) nur folgende Intervalle überhaupt möglich:
Abstand | Intervall | Beispiele aus der Ganztonleiter auf c |
---|---|---|
1 Ganzton | große Sekund | c-d oder ges-as |
2 Ganztöne | große Terz | c-e oder as-c |
3 Ganztöne | übermäßige Quart, verminderte Quint, Tritonus | c-ges oder d-as |
4 Ganztöne | kleine Sext | c-as oder e-c |
5 Ganztöne | kleine Septim | c-b oder b-as |
6 Ganztöne | reine Oktav | c- c oder ges-ges |
Es sind also nur sechs verschiedene Intervalle! Somit sind die verschiedenen möglichen Klangwirkungen recht übersichtlich, vor allem auch verglichen mit einer Dur- oder Molltonleiter. Das wichtigste aber ist: Es sind keine kleine Terzen möglich, weil deren Abstand drei Halbtöne (1,5 Ganztöne) beträgt. Das ist deshalb so wichtig, weil Dur- und Molldreiklänge kleine Terzen enthalten. Beim Komponieren mit der Ganztonleiter kann also kein Dur oder Moll erzeugt werden. Die Dreiklänge, die entstehen, sind ausschließlich übermäßige Dreiklänge.
Dreiklang | Töne | Abstand unterster/mittlerer Ton | Abstand mittlerer/oberer Ton |
---|---|---|---|
Moll | c-es-g | c-es: kleine Terz | es-g: große Terz |
Dur | c-e-g | c-e: große Terz | e-g: kleine Terz |
Übermäßiger Dreiklang | c-e-gis | c-e: große Terz | e-gis: große Terz |
Notenbeispiel 3: Übermäßige Dreiklänge
Eine weitere Folge der ausschließlich vorkommenden Ganztonschritte ist, dass die Ganztonleiter keinen Grundton besitzt. Man kann sie von jedem ihrer Töne beginnen und auf demselben Ton wieder enden. Das ist ein bisschen wie bei einem Würfel, der auch kein oben oder unten besitzt. Kein Grundton bedeutet aber auch: keine Grundtonart, von der man harmonisch weggehen und zu der man im Sinne von Spannungsauflösung wieder zurückkehren kann. Die Musik ist somit statisch und behält immer dieselbe harmonische Grundspannung.
Das Komponieren mit der Ganztonleiter ist also eigentlich nicht geeignet für längere musikalische Entwicklungen oder längere Verläufe. Die Ganztonleiter ist eher für den kurzen Effekt geeignet. Dass Debussy bei Voiles fast das gesamte Stück mit dieser Tonleiter gestaltet, macht die Komposition so bemerkenswert. Es ist eigentlich eine Machbarkeitsstudie.
Aus den Tönen der Ganztonleiter bildet Debussy nun folgende Motive, beziehungsweise Themen: Das nur aus großen Terzen bestehende Thema A.
Notenbeispiel 4: Voiles - Thema A, Takt 1-6
Das unbegleitet vorgetragene Thema ist wie bei vielen Stücken Debussys ein perfektes Beispiel für die Verschleierung von Takt und Metrum (siehe dazu die Ausführungen bei Prélude à l'après-midi d'un Faune). Im fünften Takt des Themas beginnt im Bass eine Figur, die den Ton b repetiert. Sowohl die Figur in immer leicht variierter Form als auch der Ton b bilden bis zum Ende des Stückes das klangliche Fundament. Das Stück steht also in Ermangelung einer Grundtonart die ganze Zeit auf dem b - man nennt dies in der Musik einen Orgelpunkt. Auch dieser Orgelpunkt trägt wesentlich zur Statik der Komposition bei.
Notenbeispiel 5: Voiles - Bassfigur, Takte 5-6
In Takt 7 beginnt Thema B, ein in Oktaven geführtes, zweimal ansetzendes und dann in einer großen Linie ausschwingendes, getragenes Thema. Dieses Thema wird ab Takt 10 von Thema A begleitet.
Notenbeispiel 6: Voiles - Thema B, Takte 7-14
Im B-Teil verwendet Debussy nur die Töne der Pentatonik. Die Pentatonik ist eine alte, in vielen Kulturen vorkommende, halbtonlose Tonleiter aus fünf verschiedenen Tönen (griech. penta = fünf). Man unterscheidet generell die Moll- und die Dur-Pentatonik.
Notenbeispiel 7: Dur-Pentatonik auf ges, Ges-Dur mit gelb markiert
Notenbeispiel 8: Moll-Pentatonik auf es, es-Moll mit grün markiert
Debussy verwendet hier die Mollpentatonik, denn die ganzen sechs Takte des B-Teils sind geprägt vom Klang des es-Moll-Dreiklangs, auf dem der Teil auch ausklingt. Wie verzahnt Debussy nun die beiden tonartlichen Sphären Ganztonleiter und Pentatonik? Er benutzt dazu das gemeinsame Tonmaterial beider Skalen...
Notenbeispiel 9: Vergleich Ganztonleiter - Moll-Pentatonik: gemeinsames Tonmaterial
...im Zusammenhang mit einem Motiv, das sowohl in einer ganztönigen als auch in einer pentatonischen Variante vorkommt:
Notenbeispiel 10: Voiles - Motiv ganztönig, Takt 28/29
Notenbeispiel 11: Voiles - Motiv pentatonisch, Takt 42/43
In Voiles ist Debussys Nähe zu den impressionistischen Malern sehr deutlich zu sehen. Die Motive und Themen, die er komponiert, sind kurze, offene Gebilde, die in wechselnden Beleuchtungen immer wieder nur für Augenblicke auftauchen und kurz danach schon wieder verschwunden sind - genau so wie die impressionistischen Maler ihre Farben auf die Leinwand tupfen. Dieses Spiel mit den Klangfarben macht den eigentlichen Reiz dieser Musik aus.
Genauso zart wie die Farben der Impressionisten ist auch die Dynamik, die Debussy vorschreibt. Sie bewegt sich in weiten Teilen des Stücks nur zwischen pianissimo und piano und ist selbst in diesem schmalen Lautstärkebereich noch genauestens ausdifferenziert.
© 2017 by Jochen Scheytt
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ist Lehrer, Pianist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am
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