Berceuse héroïque

Debussy schrieb die Berceuse héroïque 1914 unter dem Eindruck des gerade begonnenen Ersten Weltkriegs. Das Kriegsereignis hatte Debussy schwer getroffen. Er, der Liebhaber des Sanften, Ästhetischen war bestürzt über die Gewalt und das Töten, das über Europa hereinbrach. Sein Weltbild stürzte zusammen und lähmte ihn in seiner Schaffenskraft, die durch seine sich anbahnende Krebserkrankung schon beeinträchtigt war. So komponierte Debussy im Spätjahr 1914, nach Kriegsbeginn, außer der Berceuse héroïque kein weiteres Werk mehr.

Der Anlass für die Komposition war ein Projekt des englischen Autors Hall Caine. Im August 1914 war die deutsche Wehrmacht nach Belgien einmarschiert, um über diesen "Umweg" der französischen Armee in die Flanke zu fallen. Der Einmarsch erwies sich aber dank des erbitterten Widerstands der Belgier als schwieriger als gedacht und Gräueltaten der deutschen Wehrmacht entsetzten die Öffentlichkeit. So entschloss sich Hall Caine mit Hilfe des Daily Telegraph zur Publikation des King Albert's Book, um dem belgischen König Albert I., der sich an die Spitze des Widerstands gesetzt hatte, seine Ehre zu erweisen. Das Buch, mit dessen Erlös belgische Flüchtlinge unterstützt wurden, enthielt die Beiträge von 250 wichtigen Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, unter anderem auch Debussys Komposition Berceuse héroïque.

Man kann sich gut vorstellen, dass Debussy angesichts seiner Haltung zum Krieg dem Ansinnen Hall Caines sofort zugestimmt haben mag. Die konkrete Ausführung aber wird ihm aber sicherlich Kopfzerbrechen bereitet haben. Denn auf der einen Seite wollte Debussy Frankreich und seinen Verbündeten angesichts des deutschen Überfalls durch seine Musik moralische Unterstützung zukommen lassen, hatte aber gleichzeitig eine Abscheu gegen jegliche Art von heldisch verklärter Musik. So schrieb er seinem Verleger Durand:

"Wenn ich es wagen würde, und vor allem, wenn ich nicht diese gewisse »geschwollene Pathos« fürchtete, das diese Art von Kompositionen hervorlockt, würde ich gern einen heroischen Marsch schreiben... Aber, noch einmal, Heroismus zu praktizieren, in Ruhe, geschützt vor den Kugeln, scheint mir lächerlich." (1)

Und so entschied sich Debussy, eine berceuse héroïque, ein heroisches Wiegenlied, zu schreiben, was im Grunde ein Widerspruch in sich und damit Ausdruck von Debussys Zwiespalt ist. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Komposition eigentlich auch nicht wie ein Wiegenlied klingt, sondern eher wie ein Trauermarsch. Man spürt Debussys Depression angesichts des Kriegs förmlich aus jeder Note hervorkriechen. Schon der Beginn, der sich einstimmig in Oktaven aus tiefster Lage in langsamen, gleichmäßigen Vierteln empor bewegt, setzt die düstere Stimmung, die die ganze Komposition durchzieht. Die Bassfigur, die ab Takt 11 einsetzt, wirkt wie mühsam schleppende Schritte. Hierein mischen sich ab Takt 21 Militärfanfaren, die wie ein fernes Echo wirken und symbolhaft für Debussys räumliche Entfernung vom Kriegsgeschehen stehen.

Um den Bezug zum vorgegebenen Thema, der Huldigung des belgischen Königs, zu setzen, zitiert Debussy die ersten Takte der belgischen Nationalhymne "La Brabançonne".

Notenbeispiel 1: La Brabançonne: Takt 1 bis 5 mit dem französischen Text von Charles Rogier
La Brabançonne: Takt 1 bis 5

Debussy stellt diesen Ausschnitt aus der Brabançonne in das Zentrum der Berceuse héroïque ab Takt 38. Er gibt als Spielanweisung "fièrement", "mit Stolz", an, gestaltet den Ausschnitt aus der im Original durch die vielen kurzen Punktierungen zackigen und militärhaften Melodie aber so, dass alles Militärische und Heldenhafte nivelliert wird. So ist der Hymnenausschnitt in langsamem Tempo (modéré, plus calme), dynamisch sehr zurückgenommen (piano), in recht tiefer Lage (kleine Oktav) und sehr ausdrucksvoll (expressif) zu spielen. Statt der einfachen Kadenzharmonien, die normalerweise das Thema begleiten, verwendet Debussy nach einstimmigem Auftakt eine eher romantisch gefärbte Harmonisation mit Zwischendominanten und chromatischen Linien in den Begleitstimmen. Außerdem schleicht sich Debussy sozusagen in die Hymne hinein, indem er den Auftakt (die ersten drei Noten) augmentiert, also die Notenwerte verdoppelt, und dem Auftakt so jegliche quasi-militärische Pointierung nimmt. (2)

Notenbeispiel 2: Berceuse héroïque: Takt 38 bis 43, Brabançonne-Zitat
Berceuse héroïque: Takt 38 bis 43, Brabançonne-Zitat

Zusätzlich taucht Debussy diesen Hymnenausschnitt in ein ganz anderes, neues Licht. Steht die Berceuse bis dahin in es-Moll, wird die Brabançonne unvermittelt in der weit entfernten Tonart C-Dur, die nur einen Ton mit es-Moll gemeinsam hat, gespielt. Auch der Übergang von den ersten 37 Takten zur Hymne trägt zur neuen Beleuchtung bei. In den Takten vor dem Übergang entwickelt die Musik einen Sog und eine Dramatik; sie steigert sich ganz allmählich bis zum fortissimo, um dann jäh und unvermittelt abzureißen. Der Auftakt zur Brabançonne nach der folgenden kurzen Pause erhält dadurch einen friedlichen, ruhigen und fast erlösenden Charakter.

Noch im selben Jahr 1914 stellte Debussy selbst eine Orchesterfassung der Berceuse héroïque her.

(1) Zitiert nach: Claude Debussy. Briefe an seinen Verleger. Übersetzt und herausgegeben von Bernd Goetzke. Georg Olms Verlag, 2018, S. 325f.
(2) Das Auftaktmotiv in der originalen Rhythmik ist schon in Takt 35 und 36, kurz vor der eigentlichen Hymne, in der Oberstimme zu hören. Nach dem Hymnenausschnitt wird das kurze Motiv noch zweimal in der eingestrichenen Oktav nachgeliefert.

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  © 2023 by Jochen Scheytt

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Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.