Hommage an S. Pickwick Esq. P.P.M.P.C.
aus: Préludes Band II, Nr. 9
1. Wer ist S. Pickwick Esq. P.P.M.P.C.?
2. Welches Verhältnis hatte Debussy zu Dickens?
3. Ist das Debussy oder kann das weg?
4. Warum erweist sich das zweite Thema so problematisch für die Interpretation?
5. Welche Idee könnte dahinter stecken?
6. Was hat es mit dem Beginn auf sich?
Samuel Pickwick ist die Hauptfigur des ersten Romans von Charles Dickens, The Posthumous Papers Of The Pickwick Club (auch bekannt als The Pickwick Papers), der zwischen März 1836 und November 1837 als Fortsetzungsgeschichte in 20 Teilen veröffentlicht wurde und Dickens den schriftstellerischen Durchbruch brachte. Der Roman dreht sich um den Gelehrten Samuel Pickwick und die Vorkommnisse in dem von ihm selbst gegründeten Pickwick Club, dem er auch als Präsident vorsteht. Ziel des Clubs ist die recht vage Idee, neue Erkenntnisse zu sammeln und zu diesem Zweck Reisen quer durch England zu unternehmen. Diese oft abenteuerlichen Reisen, die Pickwick mit drei Mitstreitern aus dem Club unternimmt, bergen viel komisches Potential, daneben aber auch Gesellschaftskritik, die meist in satirischem Gewand daherkommt.
Debussy hatte, wie allgemein bekannt ist, ein Faible für alles Englische, was allerdings in krassem Missverhältnis zu seiner Beherrschung der englischen Sprache stand. Darüber hinaus war Debussy ungeheuer belesen. Wie einer seiner Künstlerfreunde, der Schriftsteller René Peter, berichtet, kannte Debussy alle Romane von Charles Dickens und unterhielt sich mit Peter oft über die Charaktere der Bücher.
"Sein guter alter Freund war Dickens. Er passte zu jeder Stimmung, unfehlbares Gegengift und unermüdliches Heilmittel gegen alle Übel. Der Spleen [Schwermut] konnte mit einer guten Dosis Pickwick, Sam Weller und seinem Kutschervater [...] und vielen anderen geheilt werden." (1)
Laut René Peter hatte Debussy eine hohe Meinung von Dickens als Autor:
"Debussy zeigte sich irritiert über eine Art Geringschätzung, die manche Engländer, wenigstens solche aus der "guten Gesellschaft" ihrem großen Nationaldichter gegenüber zeigten." (2)
Debussy las Dickens in der französischen Übersetzung und so benutzt er auch die französische Version des Namens S. Pickwick Esq. P.P.M.P.C., wobei die Buchstaben für "président perpétuel, membre du Pickwick-Club" stehen. Im englischen Original wird Pickwick mit der Abkürzung G.C.M.P.C., "General Chairman--Member Pickwick Club", versehen.
Viele Debussy-Biographen und Musikwissenschaftler haben so ihre Probleme mit diesem Prélude. So bezeichnet Danckert das Prélude als "schwach wirkend" und als "sonderbare Dickens-Huldigung". (3) In der Tat ist der Beginn mit der in tiefer Lage in Oktaven vorgetragenen englischen Nationalhymne "God Save The Queen" sehr untypisch für Debussy. So plump, schwerfällig und anscheinend uninspiriert beginnt sonst keine Komposition Debussys. Ist ihm nur nichts besseres eingefallen? Auch mit dem weiteren Verlauf können die meisten Autoren nichts anfangen, sofern sie sich überhaupt in mehr als einem Satz dazu äußern.
So schreibt Schmitz etwas ratlos von "comic contrasts" und "comic deformation; but again the dotted melody [punktierte Melodie] brings us benevolence and good nature". (4) Doch wo liegt genau das Problem? Es liegt zuerst einmal an dem zweiten Thema, das Debussy ab Takt 12 einführt.
Debussy stellt der englischen Nationalhymne, die Pickwick symbolisiert, dieses zweite, kontrastierende Thema gegenüber. Im Gegensatz zur langsam schreitenden Hymne ist es gekennzeichnet durch eine sehr schnelle Rhythmik, punktierte Sechzehntel mit nachfolgendem Zweiunddreißigstel. Das Auf und Ab dieses Themas erzeugt mit den ständigen Richtungswechseln im Kleinen eine starke Unruhe und hat etwas Tänzelndes.
Notenbeispiel 1: Zweites Thema, T. 13
Es ist schwer vorstellbar, dass hier Pickwick gemeint sein kann. Zu groß ist der Kontrast zum ersten Thema, der Nationalhymne, und zu aufgeregt und nervös ist das zweite Thema, als dass man es mit der ältlichen Figur des Samuel Pickwick vereinbaren könnte, selbst wenn dieser im Roman immer wieder unfreiwillig komische Akzente setzt. Siglind Bruhn versucht es trotzdem (5) und beschreibt den ganzen Verlauf des Prélude als stringente Entwicklung. Ihren Ausführungen zufolge hören wir eine Rede Pickwick zu seinen Clubmitgliedern, bei der er es aber nicht schafft, seine Gedanken zu einem vernünftigen Ende zu bringen, musikalisch durch den seltsamen Verlauf der Nationalhymne ausgedrückt. Stattdessen gibt er einen "Schwall vieler leerer Worte" (das ist die punktierte Melodie) von sich, redet sich in Rage, um dann am Schluss, nach einem entschuldigenden Pfeifen, doch noch auf einem versöhnlichen Abschluss anzukommen.
Doch richtig überzeugend ist auch dies nicht denn dann müsste Pickwick im Verlauf des Stücks ab Takt 31, bzw. Takt 37, wenn die Nationalhymne (Notenbeispiel 2, untere Stimme) und das schnelle Thema (obere Stimme) kombiniert werden, quasi mit doppelter Zunge sprechen.
Notenbeispiel 2: Kombination beider Themen, T. 37 und 38
Mich erinnert das Prélude sehr an Modest Mussorgskys "Samuel Goldenberg und Schmuyle" aus dem Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung. Mussorgsky vertont hier die Porträts zweier polnischer Juden, der eine reich, der andere arm, indem er die Sprache und den Tonfall der beiden in Musik verwandelt: Der Reiche, Wohlgenährte spricht ernst und energisch, in gewählten Worten und selbstsicher; musikalisch in tiefer bis mittlerer Lage, einstimmig in Oktaven. Der Arme, Dünne spricht in hoher Lage, aufgeregt, fast flehentlich und wortreich, musikalisch durch Tonrepetitionen, Vorschläge und kleine Triller versinnbildlicht.
Zuerst spricht der reiche Jude (Takt 1-8), anschließend der arme Jude (Takt 9-18). Im dritten Teil von Takt 19 bis 26 sprechen beide gleichzeitig und laut aufeinander ein, bevor die Konversation in den letzten vier Takten zu einem versöhnlichen Abschluss kommt.
Die grundsätzliche Gestaltung von Hommage à S. Pickwick Esq. P.P.M.P.C. ist durchaus ähnlich zu der Mussorgskys. Die Takte 1 bis 12 sind geprägt von der pompösen Schwerfälligkeit des Pickwickschen Themas. Ab Takt 12 übernimmt das kontrastierende rhythmisch sehr bewegte zweite Thema, das - von einigen Akkordschlägen unterbrochen - bis Takt 30 andauert. Ab Takt 31 werden beide Themen kombiniert und zu einem dynamischen und klanglichen Höhepunkt geführt. Ab Takt 41 klingt das Prélude aus, zuerst mit einem Einschub: ein Pfeifmotiv, dann mit Elementen beider Themen, die sich einander angleichen und auf einem lauten und darauf folgenden leisen Akkordschlag enden.
Möglicherweise verbirgt sich hinter der Gestaltung dieses Préludes dieselbe Idee zweier unterschiedlicher Charaktere, die abwechselnd und miteinander reden, in Streit geraten und sich anschließend wieder vertragen. God Save The Queen stünde hier für Samuel Pickwick. Doch wen könnte Debussy mit der nervösen zweiten Melodie charakterisiert haben? Eine naheliegende Möglichkeit wäre der im Roman im 10. Kapitel eingeführte Sam Weller, ein junger, dünner Bursche, der Cockney, den Londoner Dialekt der einfachen Leute spricht. Er hat im Buch immer einen flotten Spruch auf den Lippen, und redet gern und viel. Er wird zu einem treuen Diener von Samuel Pickwick, sein "Sidekick", wie man im Englischen gerne sagt, so dass die beiden in der Folge bei aller Unterschiedlichkeit eine unzertrennliche Einheit bilden. Auf Pickwick und Weller würden die beiden Themen perfekt passen.
Man mag nun einwenden, dass Debussy dann im nachgestellten Titel des Préludes die Hommage auf Weller ausdehnen hätte müssen. Debussy verstand die Titel aber nur als Anregungen, und nicht als genaue Beschreibung dessen, was in dem jeweiligen Prélude genau passiert.
Es ist im übrigen sehr wahrscheinlich, dass Debussy Mussorgskys Zyklus Bilder einer Ausstellung kannte. Er bewunderte Mussorgskys Musik sehr, vor allem seinen Liederzyklus Die Kinderstube und seine Oper Boris Godunow.
Doch noch einmal zurück zum Beginn. Wer Debussy kennt, weiß, dass der ernste Beginn nie und nimmer ernst gemeint sein kann. Debussys Sinn für Humor war zwar sehr ausgeprägt, aber immer sehr nah an der Satire und am Sarkasmus. Der zuerst sehr ernsthaft wirkende Beginn im Bass entpuppt sich schon nach wenigen Takten als Farce, wenn sich die Hymne nach einigen seltsamen harmonischen Wendungen quasi ins Nichts, auf ein in hoher Lage einsam übrig bleibendes oktaviertes "e" auflöst. Diese karikaturistische Demontage der englischen Hymne und damit auch der Persönlichkeit Pickwicks hat man Debussy auf der Insel dann auch oft krumm genommen. Stellvertretend sei hier Frank Dawes zitiert.
"It is not that we mind having our national anthem pushed about; Beethoven did it before Debussy with musical results that were entirely satisfactory, and the tune itself has remained anything but completely stable over the two hundred and more years of its history. [...] But for the most part Debussys portrait is a mere caricature." (6)
(1) Nichols, Roger. Debussy im Spiegel seiner Zeit- porträtiert von seinen Zeitgenossen.
M&T Verlag, Zürich/St. Gallen 1993, S. 163.
(2) Ebda., S. 164
(3) Danckert, Werner. Claude Debussy. Berlin, 1950, S. 68.
(4) Schmitz, E. Robert. The Piano Works of Claude Debussy. Dover Publications, 1966, S. 180 f.
(5) Bruhn, Siglind. Debussys Klaviermusik und ihre bildlichen Inspirationen. Waldkirch, 2017, S.
184-188.
(6) Dawes, Frank. BBC Music Guides. Debussy Piano Music. London, 1969, S. 49.
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