aus: Deux Romances (1891)
Liedtext: Paul Bourget
Die "Romance" wurde 1891 zusammen mit dem Lied "Les Cloches", dessen Text ebenso von Paul Bourget stammt, unter dem Titel "Deux Romances" bei Durand verlegt. Die Entstehungszeit ist früher anzusiedeln, das neue MGG nennt 1885 als Entstehungsjahr. (1)
Original | Übersetzung |
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L'âme évaporée et souffrante, L'âme douce, l'âme odorante Des lis divins que j'ai cueillis Dans le jardin de ta pensée, Où donc les vents l'ont-ils chassée, Cette âme adorable des lis? N'est-il plus un parfum qui reste De la suavité céleste Des jours ou tu m'enveloppais D'une vapeur surnaturelle, Faite d'espoir, d'amour fidèle, De béatitude et de paix? |
Die flüchtige, die leidende Seele, Die sanfte, die duftende Seele der göttlichen Lilien, die ich gepflückt habe im Garten deiner Gedanken, wo haben die Winde sie hingetragen, diese anbetungswürdige Seele der Lilien? Bleibt nicht einmal ein Duft der himmlischen Süße der Tage, an denen du mich umgeben hast mit einem übernatürlichen Schleier, aus Hoffnung, treuer Liebe Seligkeit und Frieden? |
Die "Romance" besitzt schon sehr viel Charme und viel von der Leichtigkeit Debussys späterer Werke, zählt aber sicherlich nicht zu den bedeutendsten Werken Debussys. In der Literatur wird sie deswegen oft gar nicht erwähnt oder wird sehr schlecht beurteilt. Strobel schreibt nur lapidar: "Die beiden Romanzen nach Bourget sind ohne Bedeutung." (2) Bei Vallas heißt es immerhin: "Alles daran ist liebenswürdig, von einem alltäglichen Massenet-Stil und ohne irgendeinen persönlichen Charakterzug." (3), außerdem findet Vallas "gefällige, wiegende Sextbewegungen". (4)
Nun kann nicht jede Komposition eines sich in seiner Entwicklung befindlichen Musikers ein Meisterwerk sein, und dennoch ihre Berechtigung haben. Und dass Debussy hier keine persönliche Handschrift hinterlassen hat, darf dann doch durchaus bezweifelt werden. Werke ohne persönliche Handschrift hätte Debussy nicht verlegen lassen, auch nicht unter dem Druck akuter Geldsorgen.
Die "Romance" besitzt eine klassische dreiteilige ABA'-Form (A: Takt 1-13; B: Takt 14-21; A': Takt 22-28). Der A'-Teil ist mit 7 Takten aber nur gut halb so lang wie der A-Teil. Dieser wird von einem Hauptmotiv geprägt, das ganz am Anfang im Klavier zu finden ist.
Notenbeispiel 1: "Romance", Takt 1-2
Auffallend ist, dass das Motiv im ersten A-Teil ausschließlich im Klavier vorkommt. Erst gegen Ende, beim dynamischen Höhepunkt des Lieds, am Beginn des Teils A' in Takt 22, übernimmt die Singstimme das Motiv, das im Klavier gleichzeitig in Oktaven verläuft. Die Weiterführung des Motivs wird dann allerdings wieder dem Klavier überlassen.
Die Singstimme beginnt dagegen in Takt 3 in den verklingenden Akkord des Klaviers in deklamatorischer Art mit einer Tonrepetition in tiefer Lage. Diese dem Sprachduktus angenäherte Kompostionsweise wird von Debussy oft gewählt. Die Repetition steigt halbtaktig jeweils um eine Terz an und bildet somit in den ersten beiden Takten einen e-Moll-Dreilklang.
Notenbeispiel 2: "Romance", Takt 2-3
Begleitet wird sie dabei im Klavier von einer Wiederholung des Hauptmotivs, das nun eine Oktav tiefer gespielt wird.
Erst in Takt 6 beginnt die Singstimme, eine melodische Eigenständigkeit zu entwickeln und wird im Klavier zum ersten Mal mit dem für dieses Lied typischen synkopischen Rhythmus aus Achteln und Viertelnote begleitet, der im weiteren Verlauf mit dem Hauptmotiv kombiniert wird.
Notenbeispiel 3: "Romance", Takt 6
Der B-Teil wird von einer der jeweiligen Harmonik angepassten ostinaten Figur in der Oberstimme des Klaviers beherrscht, über die sich die Gesangsstimme in weiten Bögen aufspannt.
Notenbeispiel 4: "Romance", Takt 14
Weitere Kontraste zu den beiden den B-Teil umschließenden A-Teilen sind das langsamere Tempo (meno mosso) und die Tonart, die nun zwischen den beiden Akkorden H7 und E-Dur pendelt.
Beim Übergang vom drittletzten zum vorletzten Takt findet sich eine harmonische Schlusswendung, die Debussy in seinen späteren Werken tunlichst vermieden hat: eine Dominant-Tonika-Verbindung (hier A7 nach D-Dur), wie sie in der klassischen und romantischen Musik gang und gäbe war. Er mildert die Wirkung zwar ab, in dem er in der Singstimme die Melodie vom Leitton cis nicht zum d weiterführt, wie das der Konvention entsprochen hätte, sondern zum a abspringen lässt. Es sind aber solche Elemente, die die Romance ganz klar als Frühwerk Debussys identifizieren.
Die Romance als Noten
(1) Finscher, Ludwig (Hg.). Musik in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart, 1999-2007.
(2) Strobel, Heinrich. Claude Debussy. Zürich, 1940, S. 84.
(3) Vallas, Léon. Achille Claude Debussy.Paris, 1944, S. 59.
(4) ebda., S. 65.
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