Die Terrasse der Mondscheinaudienzen
aus: Préludes Band II, Nr. 7
1. Wodurch wurde Debussy zu diesem Prélude inspiriert?
2. Welche Mondscheinkompositionen Debussys für Klavier gibt es?
3. Welcher Bezug besteht zum Kinderlied "Au clair de la lune"?
4. Welche Rolle spielen Mixturen?
5. Wie können die Mixturen inhaltlich gedeutet werden?
6. Welche weiteren musikalischen Merkmale bestimmen das Prélude?
In der Literatur werden zwei Inspirationsquellen genannt. Da ist zum einen der 1903 veröffentlichte Roman L’Inde sans les Anglais (Indien ohne die Engländer) des französischen Schriftstellers Pierre Loti. In diesem findet sich die Textzeile "Terrassen, wo man im Mondschein beratschlagt" ("des terrasses pour tenir conseil au clair de lune"). Zum anderen findet sich ein ähnliches Sprachbild in einigen Briefen, in denen der Indienkorrespondent der Zeitung Les Temps René Puaux im Dezember 1912 von der Krönungsfeier Georgs V. zum König von Indien berichtet hatte. In diesen Briefen schreibt Puaux: "...der Saal des Sieges, der Saal des Vergnügens, der Garten der Sultane, die Terrasse der Audienzen bei Mondschein" (1) ("la terrasse des audiences du clair de lune"). Laut Vallas (2) äußerte sich Debussy in einem Brief an den Komponisten und Musikkritiker Alfred Bruneau lobend über jenen René Puaux, was beweist, dass Debussy ihn kannte und schätzte. Somit ist diese Inspirationsquelle - sicher auch wegen des exakten Wortlauts - auch die wahrscheinlichere von beiden.
Debussys berühmteste Mondscheinkomposition ist das Klavierstück "Clair de lune" aus der Suite bergamasque, ein frühes Werk, bei dem Debussys charakteristische Tonsprache schon gut zu erkennen ist, das aber auch noch von romantischem Geist durchdrungen ist - was sicherlich auch ein Grund für seine Beliebtheit darstellt. Eher Debussys Klavierspätwerk zuzuordnen ist Et la lune descent sur le temple qui fut aus dem II. Band der Images. In diesem Klavierstück evoziert Debussy ähnlich wie in La terrasse des audiences du clair de lune den Mond und sein fahles Licht in immer neuen Akkordschichtungen und Akkordrückungen in feinsten dynamischen Abstufungen.
Debussy zitiert in seinen Klavierwerken immer wieder französische Kinderlieder, so auch bei La terrasse des audiences du clair de lune. Die Auswahl ist in diesem Fall eigentlich nahe liegend, denn es handelt sich dabei um das Volks- und Kinderlied Au clair de la lune.
Notenbeispiel 1: Au clair de la lune, Takte 1 bis 4
Debussy verfremdet die Ausschnitte aus diesen Kinderliedern (zum Beispiel Jardins sous la pluie aus den Estampes oder Quelques aspects de "Nous n'irons plus au bois" aus den Images oubliées) allerdings so stark, dass sie dem Hörer oft gar nicht auffallen. Oftmals übernimmt er nur wenige Töne, die er zusätzlich in ihrer Intervallstruktur verändert und in eine neue Tonalität überführt. Bei La terrasse des audiences du clair de lune, findet sich das Zitat direkt zu Beginn.
Notenbeispiel 2: La terrasse des audiences du clair de lune, Takt 1 und 2
Im Notenbild ist ein Zusammenhang zwischen Kinderlied und Debussys Übernahme auf den ersten Blick kaum zu erkennen, was an der unterschiedlichen Taktart und den verwendeten Notenwerten liegt. Durch das sehr langsame Tempo bei La terrasse werden die Sechzehntel im Grunde im gleichen Tempo musiziert wie die Viertel beim Kinderlied. Auf diese Weise entsprechen sich die ersten sechs Noten rhythmisch (Sechzehntel/Viertel und Achtel/Halbe). Bei der Tonhöhe sind es die ersten vier Noten, die übereinstimmen: die drei Tonrepetitionen und der Sekundanstieg nach oben, die genau dem Beginn des Liedtexts "Au clair de la lune" entsprechen. Anschließend führt Debussy bei La terrasse die Melodie wieder auf den Anfangston zurück, anschließend eine kleine Terz nach unten, bevor er sie dann auf einem lang ausgehaltenen Ton (g1) ausklingen lässt.
Notenbeispiel 3: Vergleich Au clair de la lune und La terrasse des audiences du clair de lune, jeweils Takt 1 und 2
Das Zitat erscheint ein zweites Mal zum Abschluss des ersten Abschnitts in Takt 7 und 8, diesmal in hoher Lage und unterlegt mit achtstimmigen Dur- und Molldreiklängen in freier Mixtur.
Debussy schrieb neben La terrasse des audiences du clair de lune noch ein weiteres Klavierstück, das eine ähnliche Thematik besitzt: Aus dem zweiten Band der Images Et la lune descent sur le temple qui fut (Und der Mond senkt sich über den Tempel von einst). Letzteres ist auf das Jahr 1907 datiert, also gut zwei Jahre, nachdem Debussy mit dem ersten Band der Images nach eigenen Angaben eine neue harmonische Chemie gefunden hatte. La terrasse des audiences du clair de lune wird auf Dezember 1912 datiert. Fünf Jahre liegen also zwischen beiden Mondstücken, die viele Ähnlichkeiten in der musikalischen Gestaltung aufweisen.
Eine zentrale Rolle spielen hierbei Mixturen. Unter Mixturen versteht man Folgen von parallel geführten Mehrklängen, meist Drei-, Vier- oder Fünfklänge. Dabei unterscheidet man tonale Mixturen, bei denen sich die Akkorde an der vorhandenen Tonart ausrichten, also zum Beispiel Dur- oder Mollakkorde sein können, und reale Mixturen, bei denen die Intervallverhältnisse innerhalb der Akkorde exakt gleich bleiben, also zum Beispiel nur Durakkorde. Dadurch enthalten die Akkordfolgen auch solche Akkorde, die nicht der Grundtonart entstammen.
Bei beiden Mondstücken verwendet Debussy reale Mixturen oder Mischformen, da diese eine größere Bandbreite an Klangfarben ermöglichen als wenn die Akkorde in einer Tonart verharren. So beginnt Et la lune descent sur le temple qui fut mit einer Melodielinie, der reine Quarten und Quinten als Mixtur hinzugegeben sind (Bei den beiden letzten Akkorden ändert sich die Mixtur).
Notenbeispiel 4: Et la lune descent sur le temple qui fut, Takt 1 bis 3, reale Mixturklänge
Bei La terrasse des audiences du clair de lune sind es meist Septakkorde und Dreiklänge, die Debussy als Mixturklänge verwendet. Diese Mixturen finden sich im gesamten Stück und können so als verbindendes Element zwischen den verschiedenen Abschnitten angesehen werden. Im folgenden finden sich einige Beispiele für reale Mixturen:
In den Takten 28 bis 29 (Notenbeispiel 5) hängt Debussy sechs Septakkorde aneinander (blau unterlegt). Sie sind bis auf den letzten Septakkord alle im Kleinterzabstand angeordnet.
Notenbeispiel 5: La terrasse des audiences du clair de lune, Takt 28 bis 29, reale Mixturklänge
Beim Akkord C#7 hat Debussy die Fünfstimmigkeit im oberen System auf vier Stimmen reduziert, da der Septakkord sonst nicht zu greifen wäre. Bei allen anderen Akkorden sind die beiden untersten Töne mit dem Daumen zu erreichen, da entweder beide auf den weißen oder beide auf den schwarzen Tasten liegen. Beim C#7 geht das nicht, da das h eine weiße und das cis eine schwarze Taste ist. Somit hat Debussy auf das cis verzichtet.
In den Takten 22 und 23 (Notenbeispiel 6) finden sich in den beiden oberen Systemen reale Mixturen, die sich jeweils im Akkordaufbau unterscheiden und voneinander unabhängig verlaufen. Die obere Mixtur (rot) besteht aus großen Terzen mit Oktavverdoppelung des Melodietons und besteht aus zwei identischen Takten, von denen der zweite eine kleine Terz höher ist, also sequenziert wird. Die untere Mixtur (blau) besteht aus chromatisch aufsteigenden dreistimmigen Septakkorden, bei denen der Quintton des Akkords fehlt.
Notenbeispiel 6: La terrasse des audiences du clair de lune, Takt 22 bis 23, reale Mixturklänge
In den Takten 39 bis 41 (Notenbeispiel 7) sind es im Rückbezug zum Clair-de-lune-Motiv des Anfangstaktes Dreiklänge in der zweiten Umkehrung, also als Quartsextakkorde, die als Mixtur geführt sind.
Notenbeispiel 7: La terrasse des audiences du clair de lune, Takt 39 bis 41, reale Mixturklänge
Insgesamt finden sich Mixturen in 24 von 45 Takten dieses Préludes. Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über die einzelnen Abschnitte und den darin vorkommenden Mixturen:
Abschnitt | Takte | Mixtur | Akkord |
---|---|---|---|
1 | 1-8 | ja | Septakkorde (Takt 1-5) Dreiklänge (Takt 7-8) |
2 | 9-12 | nein | |
3 | 13-24 | ja | Durterz mit Oktavverdoppelung (Oberstimme, Takt 20-24) Septakkorde (Mittelstimme, Takt 21-24) |
4 | 25-31 | ja | Dreiklänge (Takt 25-27) Septakkorde (Takt 28-31) |
5 | 32-36 | nein | |
6 | 37-41 | ja | Dreiklänge (Takt 39-41) |
7 | 42-45 | ja | Reine Quinten (Takt 42-43) |
Mixturen sind ein musikalisches Stilmittel, das zu Debussys Tonsprache gehört und das er in vielen Werken verwendet. Auffallend ist allerdings die Häufung der Mixturen in den beiden Klavierstücken La terrasse des audiences du clair de lune und Et la lune descent sur le temple qui fut. Insofern darf die Frage gestellt werden, was Debussy mit diesen Mixturklängen ausdrücken will.
Es bietet sich zunächst an, einen Zusammenhang mit der Mondthematik zu sehen. In diesem Zusammenhang könnten die parallel geführten Septakkorde und Dreiklänge als Farbwerte angesehen werden, die das fahle und sich möglicherweise durch vorüberziehende Wolken immer wieder leicht verändernde Mondlicht in Klangwerte umsetzen.
Doch auch der fernöstliche Bezug könnte eine Rolle spielen. Dieser ist bei beiden Mondstücken gegeben. Bei La terrasse des audiences du clair de lune ist es höchst wahrscheinlich Indien (siehe oben zur Inspiration des Préludes), bei Et la lune descent sur le temple qui fut ist es die vage Andeutung eines Tempels im Titel. So könnten die Mixturen als ein Mittel verstanden werden, Exotismen musikalisch zu evozieren; Klänge aus fremden Welten, die von der europäischen Funktionsharmonik losgelöst im Raum schweben.
Nicht zuletzt fällt im Zusammenhang mit der fernöstlichen Thematik die Nähe zur Gamelan-Musik der indonesischen Inseln auf. Auch bei La terrasse des audiences du clair de lune ist die Gamelanstruktur der gleichzeitig ablaufenden und rhythmisch und melodisch unabhängigen Schichten immer wieder präsent. Ganz deutlich fällt dies schon im zweiten Takt auf, wo die Oberstimme eine sich nach unten schlängelnde Arabeske spielt, die Mittelstimme eine langsam abwärts pendelnde Melodielinie und der Bass im Orgelpunkt verharrt.
Auch der Orgelpunkt selbst ist ein zentraler Bestandteil dieser Komposition. So liegt dem ersten Abschnitt (Takt 1-6) des Basston cis zugrunde, im zweiten Abschnitt das b. Ab Takt 16 ist es wieder das cis und anschließend im vierten Abschnitt ein gis, das sich zum g absenkt. Ab Takt 34 bis zum Schluss pendelt sich der Bass auf dem Grundton fis ein, der dann auch das Prélude beschließt.
(1) Zitiert nach: Vallas, Leon. Debussy und seine Zeit. München, 1961, S. 334
(2) Ebda.
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