1. Woher kommt die Inspiration zu L'isle joyeuse?

L'isle joyeuse, die Insel der Freude, wurde wahrscheinlich durch ein Bild des französischen Malers Jean-Antoine Watteau (1684-1721) angeregt, das den Titel "L'Embarquement de Cythere", "Einschiffung nach Kythera", trägt. So wäre auch erklärbar, dass Debussy im Titel, wohl als Anspielung auf Watteau, die alte französische Schreibweise "isle" statt "île" verwendet.

L'Embarquement De Cythere
Jean-Antoine Watteau: L'Embarquement de Cythere (1717)

Die Insel Kythera, die in der Südägäis liegt, ist in der griechischen Mythologie die Insel, die Aphrodite (oder Venus) nach ihrer Geburt auf dem Meer zuerst betritt. Sie wird als "Land des ewigen Frühlings, des glückhaften Lebens" (1) oder als "Reich der Liebe, fern aller Konflikte" (2) beschrieben.

2. Welcher biographische Bezug besteht?

Debussy schrieb L'isle joyeuse im Jahr 1903. Im Sommer 1904 arbeitete er das Klavierstück bei einem Aufenthalt auf der Kanalinsel Jersey jedoch völlig um. Es wird daher immer wieder in Verbindung mit seiner damals begonnenen Beziehung zu Emma Bardac gebracht.

Debussy hatte Emma Bardac, eine Musik liebende Bankiersgattin, kennengelernt, nachdem er begonnen hatte, ihren Sohn Raoul zu unterrichten. Das Verhältnis der beiden wurde 1904 öffentlich und entwickelte sich zu einem handfesten Skandal, da beide, sowohl Debussy als auch Emma, verheiratet waren. Wohl auch um dem Druck dieses öffentlich ausgetragenen Streits zu entgehen, reisten Debussy und Emma aus Paris ab und besuchten unter anderem die Insel Jersey.

Sicherlich genossen die beiden in ihrer Verliebtheit trotz des Streits im weit entfernten Paris ihre gemeinsame Zeit auf ihrer "île joyeuse". Schließlich nahmen sie für ihr privates Glück eine Menge auf sich: Scheidungskrieg auf beiden Seiten, Gerichtstermine, Ärger mit Familie und Freunden, und öffentliche Diskussionen über ihr Privatleben.

3. Was ist das besondere am Beginn des Stücks?

Der biographische Bezug ist nicht unumstritten. Dennoch spricht vieles dafür, denn L'isle joyeuse ist eines der wenigen Stücke Debussys, die vor Energie und Spielfreude geradezu sprühen. Das beginnt schon mit den Einleitungstakten. Beginnen andere Kompositionen Debussys mit unbegleiteten, zarten, lang ausgehaltenen Tönen, so ist es hier ein Triller, der zwar auch im Piano beginnt, aber vor Energie geradezu platzt und dann auch quasi zwangsläufig in eine rasend schnelle Zweiunddreißigstelfigur mündet.

Notenbeispiel 1: L'isle joyeuse, Takt 1 L'isle joyeuse, Takt 1

Hier zeigt sich hier eine erstaunliche Parallele zum Beginn des Orchesterwerks Prélude à l'après-midi d'un Faune. Beide Werke beginnen mit dem Ton cis2, der dann chromatisch bis zum g1 abwärts geführt wird. Bei L'isle joyeuse wird die chromatische Linie allerdings von Dreiklangsbrechungen in übermäßigen Dreiklängen unterbrochen, beim Prélude à l'après-midi d'un Faune fehlt zur vollständigen Chromatik das c2. Beiden gemeinsam ist auch der einstimmige Beginn im Piano, der relativ lange ausgehaltene erste Ton, die generelle rhythmische Unbestimmtheit, sowie das Fehlen eines erkennbaren Metrums oder Tempos.

Notenbeispiel 2: L'isle joyeuse, Takt 1, Chromatik L'isle joyeuse, Takt 1

Notenbeispiel 3: Prélude à l'après-midi d'un Faune, Takt 1, Chromatik Prélude à l'après-midi d'un Faune, Takt 1

4. Harmonische Gestaltung: Ganztonbereich

Verallgemeinernd kann man sagen, dass L'isle joyeuse verschiedene harmonische Bereiche besitzt, zwischen denen es sich hin- und herbewegt und denen die vorkommenden Motive und Themen fest zugeordnet sind. Die beiden wichtigsten harmonischen Bereiche sind die Ganztönigkeit, mit der das Stück beginnt und der Bereich der A-Dur-Tonalität, dem die beiden großen Themen zugeordnet sind. Ein dritter, etwas untergeordneter Bereich ist die Chromatik, die gleich im Eingangsmotiv zu finden ist (Notenbeispiel 2).

Das Eingangsmotiv, ist aber eigentlich dem ganztönigen Bereich zuzuordnen. Der in Notenbeispiel 2 dargestellte chromatische Verlauf verbindet nur die drei gebrochenen übermäßigen, aus Tönen der Ganztonleiter bestehenden Dreiklänge miteinander Die ganztönige Struktur des Motivs wird allerdings durch das rasend schnelle Tempo etwas verschleiert.

Ganztonleiter


Eine Ganztonleiter ist eine Tonleiter, bei der die Abstände zwischen den einzelnen Tönen ausschließlich Ganztöne sind. Sie besteht somit aus sechs verschiedenen Tönen. Durch die stets gleichen Tonabstände kann die Ganztonleiter auf jedem Ton beginnen und enden, sie besitzt also keinen Grundton. Es gibt zwei Varianten, die einen Halbton auseinander liegen (zum Beispiel c und cis) und zusammen alle 12 möglichen Töne beinhalten. Diese beiden Varianten sind in den folgenden beiden Notenbeispielen abgebildet.

Notenbeispiel 4: Ganztonleiter auf c, Schreibweise mit Kreuzen
Ganztonleiter

Notenbeispiel 5: Ganztonleiter auf cis, Schreibweise mit Kreuzen
Ganztonleiter

Debussy verwendet hierfür die Ganztonleiter vom Ton cis aus beginnend, mit den Tönen cis, dis, f, g, a und h.

Notenbeispiel 6: L'isle joyeuse, Takt 1, Ganztönigkeit L'isle joyeuse, Takt 1

Ein weiteres ganztöniges Motiv tritt ab Takt 21 zum ersten Mal auf. Es ist ein für Debussy sehr typisches Motiv, das im Grunde nur aus einem kontinuierlichen Hin- und Herpendeln zwischen zwei eine große Terz voneinander entfernten Tönen ist. Sind das im ersten Takt f und a, so wird das Motiv im zweiten Takt einen Ganzton nach oben zum g und h verschoben. Es besitzt keine Regelmäßigkeit und endet rhythmisch unbestimmt mit Überbindungen und einer abschließenden Vierteltriole.

Notenbeispiel 7: L'isle joyeuse, Takt 21, ganztöniges Motiv L'isle joyeuse, Takt 1

Dieses Motiv wirkt wie ein Signal und besitzt interessanterweise die gleichen Töne wie das kurze Signalmotiv, das in Takt 3 kurz in der Oberstimme erscheint.

5. Harmonische Gestaltung: A-Dur-Tonalität

L'isle joyeuse besitzt zwei Themen, die beide in A-Dur stehen, wobei man differenzieren muss. Denn für das 1. Thema, das mit einem ostinaten A-Dur-Dreiklang begleitet wird, benutzt Debussy die akustische Skala. Diese besitzt eine erhöhte IV. Stufe, also auf A-Dur bezogen dis statt d und erniedrigte VII. Stufe, also g statt gis (im Notenbeispiel 9 blau markiert).

Notenbeispiel 8: Akustische Skala auf A-Dur L'isle joyeuse, Takt x

Notenbeispiel 9: L'isle joyeuse, 1. Thema, Takt 9 L'isle joyeuse, Takt 9

Beim 2. Thema ab Takt 67 im 3/8-Takt verwendet Debussy eine Mischung aus der akustischen Skala und der A-Dur-Tonleiter. Aus der akustischen Leiter behält Debussy das dis, verwendet aber das gis aus der Dur-Tonleiter. Das dis wird allerdings in den Mittelstimmen der Akkorde wieder aufgelöst, es erscheint dort stets das d.

Notenbeispiel 10: L'isle joyeuse, 2. Thema, Takt 67 bis 72 L'isle joyeuse, Takt 67-72

6. Wie stellt Debussy harmonische Zusammenhänge her?

Vergleicht man die drei Skalen Ganztonleiter, akustische Skala auf A und die A-Dur-Tonleiter, stellt man fest, dass diese viele gemeinsame Töne besitzen. So kommen von den sechs verschiedenen Tönen der Ganztonskala auf A fünf in der akustischen Skala auf A vor. Die akustische Skala auf A und die A-Dur-Tonleiter besitzen auch fünf gemeinsame Töne. Somit sind die klanglichen Bereiche gar nicht so weit voneinander entfernt wie man zuerst vielleicht meinen mag.

Notenbeispiel 11: Vergleich der Ganztonleiter, akustischen Tonleiter und Durtonleiter Vergleich der Ganztonleiter, akustischen Tonleiter und Durtonleiter

Zusätzlich verwendet Debussy den Ton cis, der in allen drei Skalen vorkommt, als Zentralton, aus dem sich ganz zu Beginn das Eingangsmotiv und in Takt 9 auch das 1. Thema herauslöst.

7. Woher kommt der tänzerische Charakter der Themen?

L'isle joyeuse steht in einer für Debussy ungewöhnlichen Tonart, in A-Dur. Debussy schreibt A-Dur immer dann, wenn er Tanzmusik schreibt, sei es auf eher stilisierte Art und Weise oder in Nachahmung von Volksmusik. So sind Themen in A-Dur in The little shepherd aus Children's Corner (ein Thema, das im Übrigen eine große Ähnlichkeit zum 1. Thema von L'isle joyeuse besitzt), oder beim Habanera-Thema in La soiree dans Grenade aus den Estampes zu finden.

Die Themen von L'isle joyeuse besitzen unabhängig von der A-Dur-Tonalität allesamt einen starken tänzerischen Charakter. Dieser entsteht im 1. Thema aus Drehbewegungen in Sechzehntel-Punktierungen und Sechzehnteltriolen. Diese ziehen sich durch das ganze dreitaktige Thema, wechselweise nach unten oder nach oben gerichtet. Auch die springende Bassfigur (siehe Notenbeispiel 9) trägt zu diesem Charakter bei.

Notenbeispiel 12: L'isle joyeuse, Takt 9 bis 11 L'isle joyeuse, Takt 9 - 11

Auch im 2. Thema finden sich viele Punktierungen, die im Kontext mit dem schnellen 3/8-Takt für den tänzerischen Charakter verantwortlich sind. Wenn Debussy Tanzthemen schreibt, übernimmt er meist die der Tanzmusik innewohnende regelmäßige Periodik, die sich typischerweise in zwei- vier- acht- und sechzehntaktigen Einheiten äußert. So auch hier.

Notenbeispiel 13: L'isle joyeuse, 2. Thema, Takt 67 bis 82 L'isle joyeuse, 2. Thema, Takt 67 bis 82

Debussy wiederholt das insgesamt 16-taktige Thema direkt anschließend in identischer Form - nur die Lage ändert sich teilweise und der letzte Viertakter wird harmonisch variiert.

7. Wie schwierig ist L'isle joyeuse zu spielen?

L'isle joyeuse gehört zu den schwierigsten Klavierstücken, die Debussy geschrieben hat. Schon Debussy selbst hat bemerkt, welch hohe Virtuosität L'isle joyeuse den Interpreten abverlangt, was sein Kommentar an seinen Verleger beweist: "Herrgott, wie ist das schwer zu spielen! [...] Dieses Stück vereinigt in sich, wie mir scheinen will, alle Arten, mit dem Klavier umzugehen, denn es vereinigt Kraft und Anmut, wenn ich so sagen darf." (3) Debussy spricht hier das zentrale Problem schon an, nämlich die Gefahr, der einige Interpreten erliegen, L'isle joyeuse als reines Virtuosenstück zu betrachten, bei dem die poetischen Töne völlig ins Hintertreffen geraten. Genau diese Anmut darf aber nicht im Rausch der Virtuosität untergehen.

Dass L'isle joyeuse kein Virtuosen-Glanzstück ist, sieht man auch an den Dynamikangaben. So schreibt Debussy im Großteil des Stückes Lautstärken im Pianissimo- bis Mezzoforte-Bereich vor. Forte-Angaben findet man relativ selten und wenn, dann immer recht kurz. Insgesamt sollen bis Takt 186, wenn die große Schlusssteigerung beginnt, nur 25 Takte im Forte-Bereich gespielt werden. (Takt 3, erste Takthälfte, Takt 52 bis 63, Takt 140 bis 144, Takt 156 bis 159, Takt 182 bis 185; insgesamt sind es 17 Forte-Zeichen). Fortissimo-Angaben gibt es im genannten Bereich gar keine. Richtig laut wird L'isle joyeuse dann erst in den letzten Takten ab Takt 220, wenn das zweite Tanzthema im Fortissimo wieder erscheint, und das Stück dann im Forte-Fortissimo mit dem Eingangsmotiv endet.

Auch das rasende Tempo, das viele Interpreten anschlagen, wird so im Notentext nicht gefordert. Debussy schreibt beim 1. Thema Modéré et très souple, also gemäßigt und sehr beweglich vor. Das 2. Thema soll stets cédé, also nachgebend gespielt werden. Selbst bei der Schlusssteigerung schreibt Debussy nur très animé jusqu'à la fin, also sehr lebhaft bis zum Ende, auch das kein Ausdruck maximaler Schnelligkeit.


(1) Danckert, Werner, Claude Debussy. Berlin, 1950, S. 185.
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Einschiffung_nach_Kythera
(3) Zitiert nach: Vallas, Leon. Debussy und seine Zeit. München, 1961, S. 274.

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  © 2023 by Jochen Scheytt

Die deutschen Debussy-Seiten sind der umfangreichste Überblick über Debussys Leben und Schaffen in deutscher Sprache im Internet.

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.