1. Satz: Très modéré
2. Satz: Modéré
Im Jahr 1887 hielt sich Debussy in der Villa Medici in Rom auf. Er hatte den Rompreis erhalten - ein Kompositionsstipendium der Académie des Beaux-Arts, das zu einem dreijährigen Aufenthalt in der römischen Villa berechtigte. Als Gegenleistung musste er dort komponieren und die entstandenen Werke der Académie zur Begutachtung durch eine Jury vorlegen. Die Jury war mit prominenten Musikern, unter anderem mit Camille Saint-Saëns, besetzt, gleichzeitig aber sehr konservativ und stark auf die Bewahrung der Traditionen ausgerichtet. Sie war - das kann man so sicher konstatieren - dem jungen und wenig konformen Debussy nicht sehr gewogen.
Printemps war das zweite Werk, das Debussy einreichte, eine zweisätzige symphonische Suite für Chor, Klavier und Orchester, die wahrscheinlich von einem Bild des italienischen Renaissancemalers Sandro Botticelli (1445-1510) mit dem Titel Primavera angeregt wurde.
Es ist allerdings nicht sicher, ob Debussy die Orchestrierung jemals ausführte, denn in Rom wurde das Werk in einer vierhändigen Klavierfassung mit Chor aufgeführt und auch die Académie erhielt wahrscheinlich diese Version zur Begutachtung. Die Beurteilung durch die Rompreis-Jury war nicht durchgängig schlecht, aber man war im Großen und Ganzen nicht zufrieden mit Debussys Entwicklung. Man war darüberhinaus etwas irritiert über die Behandlung des Chors, der nur mit geschlossenem Mund singen durfte. Die Jury schrieb:
"Gewiss sündigt Herr Debussy nicht durch Plattheit oder Landläufigkeit. Er hat im Gegenteil die ausgesprochene Neigung, auf Fremdartigkeiten auszugehen. [...] Es wäre sehr zu wünschen, dass Herr Debussy sich dieses verschwommenen Impressionismus erwehren würde, der einer der gefährlichsten Gegner der Wahrheit in den Werken der Kunst ist." (1)
In dieser Beurteilung wird Debussys Musik zum ersten Mal mit dem Begriff "Impressionismus" und damit mit der impressionistischen Malerei in Zusammenhang gesetzt - ein Etikett, gegen das er sich sein ganzes Leben lang vergeblich gewehrt hat. Dies war durchaus verständlich, denn Debussy hatte keinen näheren Kontakt oder Bezug zu den impressionistischen Malern, er fühlte sich vielmehr den symbolistsichen Dichtern verbunden. Außerdem war die Bezeichnung abwertend gemeint und wurde natürlich auch so verstanden.
Printemps wurde erst 1904, also 17 Jahre nach Entstehung veröffentlicht, und zwar in der Fassung für Klavier und Chor. Noch einmal neun Jahre später, 1913, erschien dann auch eine reine Orchesterfassung ohne Chor. Auch war die Orchestrierung nicht von Debussy selbst gefertigt worden, sondern von Henri Büsser. Man kann an diesen zeitlichen Abständen ablesen, dass Debussy dem Werk selbst nicht so viel musikalischen Wert beigemessen haben kann. Auch die Tatsache, dass Debussy die Orchestrierung nicht selbst übernahm, ist äußerst ungewöhnlich und beweist die mangelnde Wertschätzung gegenüber seiner Komposition. Es ist sicher nicht weit hergeholt, einen Zusammenhang mit dem ungeliebten Rompreis zu vermuten, auch wird Debussy dem Frühwerk Printemps aus Gründen der noch unausgewogenen musikalischen Gestaltung kritisch gegenübergestanden sein. Dabei enthält Printemps schon vieles vom kommenden Debussy.
Welche "Fremdartigkeiten" die Rompreis-Jury festgestellt hat, ist nicht genau bekannt, aber schon die Anfangstakte des Werkes sind so geprägt von Debussys kommender, neuartiger Tonsprache, dass man davon ausgehen kann, dass sich die Juroren daran störten.
Eingeleitet wird Printemps durch einen von Flöte und Klavier unbegleitet vorgetragenen musikalischen Gedanken. Er ist ziemlich kurz, besteht im Grunde nur aus einer zweitaktigen Phrase, die direkt im Anschluss wiederholt wird. Dabei wird die Phrase nicht komplett wiederholt, sondern nur bis zur dritten Note des zweiten Taktes, der Terz ais (Die Tonart hier ist Fis-Dur), auf der sie synkopisch stehen bleibt. Dadurch ergibt sich ein melodisch wie rhythmisch offen gehaltenes Ende, mehr ein Verklingen, als ein zu Ende komponiertes Thema. Der Gedanke ist pentatonisch gebaut, rhythmisch durchaus einfach gehalten, bewegt sich ausschließlich im Pianissimo bis Piano, ist gesanglich und hat einen wiegenden melodischen Verlauf.
Notenbeispiel 1: Takt 1-5
Statt diesen Anfangsgedanken nun musikalisch weiterzuentwickeln, harmonisiert Debussy den Schlusston in den beiden Folgetakten zuerst mit einem Fis-Dur-Septnonakkord (fis, ais, cis, e, gis), der dann im achten Takt in einen Es-Dur-Septnonakkord (es, g, b, des, f) übergeht. Auch diese Harmonisierung ist schon charakteristisch für Debussys Tonsprache und entgegen der Konvention: statt das Werk, das in Fis-Dur steht, mit einem Fis-Dur-Dreiklang (der Tonika) zu beginnen, benutzt er einen Septnonakkord, der normalerweise dominantisch verwendet wird, sich also in die Tonika auflöst. Indem Debussy diesen Akkord nun nicht auflöst, sondern den nächsten Septnonakkord folgen lässt, löst er diese Akkorde aus ihrer bis dahin üblichen funktionalen Logik und benutzt sie als reine Klangwerte.
Auch der weitere Verlauf ab Takt 9 widerspricht der traditionellen Gestaltung, indem Debussy den Anfangsgedanken nach einer Generalpause genauso unbegleitet einfach noch einmal aufnimmt und ihn erst in der Phrasenwiederholung dezent durch eine Gegenstimme in der Viola und einen Liegeton in den Hörnern harmonisiert.
Notenbeispiel 2, Takt 9-12
Debussy folgt in diesen Anfangstakten also ganz bewusst nicht tradierter formaler Entwicklung, sondern folgt mit der musikalischen Gestaltung des Beginns von Printemps dem zu Grunde liegenden inhaltlichen Programm, das er in einem Brief erklärt:
"Ich möchte das langsame und schmerzvolle Entstehen der Wesen und Dinge in der Natur ausdrücken, dann ihre aufsteigende Entwicklung bis zu einem abschließenden Freudenausbruch über die Wiedergeburt zu einem irgendwie erneuerten Leben" (2)
Dieser Anfang verweist in seinen Kennzeichen schon auf das kommende Prélude à l'après-midi d'un Faune, das ebenfalls mit einem einstimmig vorgetragenen Flötenthema beginnt, das anschließend immer wieder neu harmonisiert und instrumentiert wird. Auch hier liegt eine träumerische Stimmung vor, ein Entstehen quasi aus dem Nichts.
Notenbeispiel 1: Prélude à l'après-midi d'un Faune, Flötensolo, T. 1-4
Konventionell gestaltet ist dagegen der zweite musikalische Hauptgedanke bei Ziffer 5 von Printemps, den man nun zu Recht als Thema, in diesem Falle als Seitenthema bezeichnen kann und der den Juroren sicherlich gefallen hat.
Notenbeispiel 3:
Seitenthema
Er folgt dem klassischen Aufbau eines achttaktigen musikalischen Satzes mit einem viertaktigen Vordersatz und einem ebenso langen Nachsatz, die beide noch in zweitaktige Phrasen untergliedert sind. Das im romantischem Geist mit "Andante molto espressivo" überschriebene Thema endet auf der Dominante, so dass sich sofort eine Wiederholung anschließen kann, die das Thema weiterentwickelt.
Vier Takte nach Ziffer 16 findet sich dagegen wieder ein Element, das Debussy später sehr häufig verwendete: ein viertaktiger Abschnitt, der auf der Ganztonleiter basiert. Die Ganztonleiter wird hier zweimal durchschritten, was am besten in der Harfe zu sehen ist.
Notenbeispiel 4:
Ganztonfeld, 4 Takte nach Ziffer 16
Der erste Satz von Printemps kommt dem Personalstil Debussys, den dieser im Laufe der 1890er Jahre entwickelte in vielen Teilen schon recht nahe, was auch auf das für Debussy sehr typische Sujet - das Erwachen der Natur - zurückzuführen ist. Vom zweiten Satz, der den Freudensausbruch darstellt, kann man das nicht so uneingeschränkt behaupten.
Beim zweiten Satz spürt man das Suchen Debussys nach einem eigenen Stil, man merkt die Unsicherheit im Umgang mit der Materie und man versteht auch Debussys spätere kritische Distanz zu Printemps viel besser. Der Satz hat noch nicht die impressionistische Leichtigkeit, das Flirren, sondern kommt in vielen Teilen etwas schwerfällig daher. Sogar der Hauptgedanke des 1. Satzes, der gegen Ende wieder auftaucht, um eine Einheit der beiden Sätze herzustellen, hat von seiner Leichtigkeit verloren, die ihn noch im 1. Satz ausgezeichnet hat.
Sehr schön ist allerdings der strahlende Effekt gegen Ende des 2. Satzes (Ziffer 46), als der Hauptgedanke des 1. Satzes in den Trompeten und Hörnern rhythmisch augmentiert (mit verlängerten Notenwerten) gespielt wird, während er in Klavier und den Holzbläsern in einer leicht verkürzten und rhythmisch verkleinerten Version, einer Diminution, dagegengesetzt wird.
Notenbeispiel 5:
Ziffer 46
(1) Zitiert nach: Vallas, Leon. Debussy und seine Zeit. München, 1961, S. 77.
(2) Zitiert nach: Barraqué, Jean. Claude Debussy. Hamburg, 1964, S. 52.
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