Der exzentrische General Lavine
aus: Préludes Band II, Nr. 6
1. Wer war Général Lavine?
2. Was versteht man unter einem Cake-Walk?
3. Wie verwendet Debussy den Ragtime?
4. Welche formale Gestaltung lässt sich feststellen?
5. Wie sind die einzelnen Motive und Themen gestaltet?
6. Wie könnte man dan A-Teil inhaltlich interpretieren?
7. Welchen Hinweis auf die US-amerikanische Heimat des Clowns
versteckt Debussy?
Der exzentrische General Lavine war ein amerikanischer Clown (1879-1946), der 1910 und 1912 in Paris in den Follies Marigny auftrat. Zu seinen Spezialitäten gehörten Jonglage, Stelzenlaufen und das Klavierspielen mit seinen Zehen (1). Er behauptete, sein ganzes Leben Soldat gewesen zu sein und muss mit seiner Schlaksigkeit bei enormer Körpergröße einen überwältigenden Eindruck hinterlassen haben. Jedenfalls beschreibt der Kritiker des San Francisco Chronicle am 11. März 1945, dass er in seiner Uniform noch größer aussehe als er wohl sei. Die genannten "nine feet", also umgerechnet 2,74 Meter dürfen wohl eher in das Reich der Fantasie gehören. (2) Debussy sah den Clown bei einem seiner Pariser Auftritte.
Überschrieben ist das Prélude mit "Dans le style et le Mouvement d'un Cake-Walk". Der Cake-Walk begegnet uns in Debussys Klavierwerk auch in Children's Corner, dort bei Golliwog's Cakewalk. Der Cake-Walk war ein Schreittanz, der hauptsächlich während Minstrel Shows, Variety Shows und deren Umfeld aufgeführt wurde. Groteske, übertriebene Bewegungen und Figuren als Parodie weißer vornehmer Tanzstile waren Bestandteil dieses Tanzes. Der Name scheint daher zu kommen, dass für die komischste Darbietung dieses Tanzes ein Kuchen als Preis ausgelobt wurde. In Europa gewann dieser Tanz im Zuge der Begeisterung für alles Exotische sehr schnell an Popularität, wurde jedoch mehr als Showeinlage dargebracht und nicht vom Publikum getanzt. Musikalische Grundlage des Cake-Walk ist der Ragtime.
Auch der Ragtime taucht bei Debussy immer wieder auf (Golliwog's Cakewalk, The little negro). Bei Général Lavine - excentric ist der Ragtime aber stilisierter. Debussy ist im Vergleich zu seinen früheren vom Ragtime inspirierten Kompositionen in seiner musikalischen Sprache weiter fortgeschritten und setzt Elemente des Ragtime nicht durchgehend, sondern nur partiell und bewusst als Stilmittel ein. So ist nur an verhältnismäßig wenigen Stellen (Takte 15-16, 23-28, 39-42 und den entsprechenden Parallelstellen) die Ragtime-typische Begleitfigur, die stete Abfolge von Basston und Akkord in gleichmäßiger Achtelrhythmik, zu finden (siehe auch Notenbeispiele 4 und 5).
Formal lässt sich eine Dreiteiligkeit mit Einleitungs- und Schlussteil feststellen, die in dieser Art und Weise von Debussy oft verwendet wird.
Teil | Takte |
---|---|
Intro | Takt 1-10 |
A | Takt 11-45 |
B | Takt 46-69 |
A' | Takt 70-93 |
Coda | Takt 94-109 |
Debussy benutzt verschiedene Motive, die in verschiedenen Formteilen vorkommen, und ein längeres Thema, das Ragtime-Thema, das dem A-Teil zugeordnet ist.
Teil | Takte | Motive und Themen |
---|---|---|
Intro | Takt 1-10 | Trompetensignal, Dreiklangsmotiv |
A | Takt 11-45 | Ragtime-Thema, Trompetensignal |
B | Takt 46-69 | Dreiklangsmotiv, Zitat "Camptown Races" |
A' | Takt 70-93 | Verkürzter A-Teil |
Coda | Takt 94-109 | Ragtime-Thema, Trompetensignal, Dreiklangsmotiv |
Das Trompetensignal ist über den gesamten Verlauf des Stückes präsent. Das Prélude beginnt mit diesem Motiv und endet auch damit. Zudem durchzieht es die ganze Einleitung und die letzten Takte der Coda. Auch an das Ragtime-Thema wird das Trompetensignal stets angehängt, wirkt hier in der tiefen Lage (zum Beispiel Takt 18) eher wie ein Stolperer. Ob der General bei seiner Show tatsächlich eine Trompete oder ein ähnliches Signalinstrument dabei hatte und dies den Auftritt wie ein Running Gag durchzog, oder ob Debussy damit ganz einfach den militärischen Grundcharakter der Show illustrieren wollte, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen.
Notenbeispiel 1: Trompetensignal, Takt 1
Beim Dreiklangsmotiv handelt es sich um einen gebrochenen B-Dur-Dreiklang (Melodietöne: b, d, f, d, b), der mit einem Wechsel von Dur- und Mollakkorden (es-Moll, G-Dur, b-Moll, G-Dur, es-Moll) ungewöhnlich harmonisiert ist. Die Harmonisation erzeugt eine gewisse Ungelenkigkeit.
Notenbeispiel 2: Dreiklangsmotiv, Takt 1-2
Das Ragtime-Thema, T. 11ff., ist das beherrschende Element des A-Teils. Es besteht in den ersten vier Takten nur aus Tönen der F-Dur-Pentatonik. Diese vier Takte erscheinen dreimal in identischer Gestalt: Takt 11-14, Takt 19-22 und Takt 35-38.
Notenbeispiel 3: Ragtime-Thema, Takt 11-14
Weitergeführt wird das Thema immer auf andere Weise, wobei beim ersten und dritten Vorkommen eine wiegende Melodie aus punktierten Achteln und anschließenden Sechzehnteln folgt, die vom typischen Ragtime-Rhythmus begleitet wird.
Notenbeispiel 4: Ragtime-Thema, Takt 15-16
Ab Takt 25 wählt Debussy für die Begleitakkorde zwei harmonisch sehr weit voneinander entfernte Akkorde, As-Dur und D-Dur als Septakkord, was einen schwankenden, ungelenk von links nach rechts sich bewegenden Eindruck hinterlässt.
Notenbeispiel 5: Ragtime-Thema, Takt 27-28
Das ganze Ragtime-Thema könnte den komischen Auftritt des "Général" auf Stelzen darstellen, bei dem er so tut, wie wenn das Stelzenlaufen nicht beherrschen würde. Ein kleiner Versuch einer bildlichen Umsetzung des A-Teils.
Der General versucht zweimal aufzusteigen (T. 11-14), er läuft einige Schritte (T. 15-16) und purzelt von den Stelzen (T. 17-18). Der General braucht wieder zwei Versuche um aufzusteigen (T. 19-22), läuft mal schnell, bleibt immer wieder unvermittelt stehen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen und wird mit den Stelzen immmer breitbeiniger (T. 23-28). Er läuft immer schneller und kleiner (T. 29-30), steigt in höchster Not ab und breitet die Arme aus um den Beifall entgegenzunehmen (T. 31-34). Der General läuft zum dritten Mal los (T. 35-42), fällt von den Stelzen und sitzt traurig am Boden (T. 43-45).
Eine kleine Reminiszenz an die US-amerikanische Heimat des Clownss und an seine Herkunft aus den Minstrel Shows, Variety Shows und Vaudevilles baut Debussy im B-Teil in den Takten 51-52 und 63-64 in Form eines musikalischen Zitats ein: Den Beginn des Lieds Camptown Races, das Stephen Foster, einer der produktivsten Komponisten von Minstrel Songs, 1850 schrieb.
Notenbeispiel 6: Camptown Races (Beginn) und Zitat in Général Lavine - excentric
, Takt 52-53