Suite bergamasque

Die Suite bergamasque enthält das wahrscheinlich bekannteste Klavierwerk Debussys, Clair de lune. Die restlichen drei Stücke des Zyklus haben nie den Bekanntheitsgrad von Clair de lune erreicht, was nicht verwundert, haben diese drei doch eine ganz andere, an barocken Vorbildern orientierte Tonsprache. So fällt Clair de lune mit seiner spätromantischen und frühimpressionistischen Klangwelt tatsächlich etwas aus dem Rahmen dieses Zyklus, dessen Entstehungsgeschichte unsicher und schlecht dokumentiert ist.

Entstehung

Die Suite bergamasque zählt zu den früheren Werken Debussys, die ungefähr um 1890 entstanden. Zu dieser Zeit, Debussy war Ende 20, hatte er seinen Durchbruch als Komponist noch nicht geschafft und die entstehenden Werke, die er an Verleger verkaufte, landeten dort im Archiv und wurden nicht gedruckt. Erst 1902 tauchte die Suite bergamasque wieder auf, als der Verleger Fromont Debussy-Werke erwarb. Ursprünglich hatte die Suite die Satzfolge Prélude, Menuet, Promenade sentimentale und Pavane.

Im Jahr 1905 erschien das viersätzige Werk dann mit den Sätzen Prélude, Menuet, Clair de lune und Passepied, wobei unklar ist, ob die neu betitelten Sätze 3 und 4 Neukompositionen waren, die Stücke von Debussy überarbeitet wurden, oder sich tatsächlich nur die Titel geändert hatten.

Titel

Eine Suite (franz.: Folge) ist eine mehrteilige Komposition, die verschiedene Tanzsätze enthält. Suiten waren vor allem in der Zeit des Barock beliebt, als die aristokratische Gesellschaft bei ihren Festen Gruppentänze mit wechselnder Paarbildung tanzte, so genannte höfische Tänze. Es bildete sich bald eine Standardreihenfolge mit vier Tänzen heraus. Dies waren Allemande, Courante, Sarabande und Gigue. Zwischen diese wurden weitere Tanzsätze wie Bourée, Pavane, Menuett, Passepied oder freie Spielstücke eingefügt.

Was der Bestandteil "bergamasque" im Titel der Suite bergamasque bedeuten soll, ist nicht klar. Debussy scheint das Wort Paul Verlaines Gedicht "Clair de lune" entnommen zu haben. Dort heißt es: "Votre âme est un paysage choisi, que vont charmants masques et bergamasques..." (vollständiges Gedicht siehe unten bei Clair de lune). "Bergamasque" könnte sich zum einen auf die Bewohner der Region um Bergamo in Italien beziehen, es könnte aber auch nur eine lautmalerische Erweiterung der "masque", der Maske, darstellen.

Musikalische Gestaltung

Die klangliche Welt des Barock und der Clavecinisten entsteht nicht nur durch die Verwendung der Suitenform, sondern vor allem auch durch barock klingende Spielfiguren, Verzierungen, polyphone Mehrstimmigkeit und kirchentonartliche und archaisch klingende harmonische Wendungen.

Clavecinisten

Als Clavecinisten (eigentlich wörtlich übersetzt: Cembalisten) bezeichnet man die barocken französischen Meister des Instruments, die gleichzeitig überragende und prägende Komponisten der Ära waren. Dies sind im Wesentlichen François Couperin and Jean-Philippe Rameau. Auf diese beiden Musiker bezieht sich Debussy immer wieder und benennt sie als maßgebliche Einflüsse auf seine Kunst.

Gleichzeitig reichert Debussy die Harmonik mit seinen "neuen" Mitteln an. Strobel schreibt zu dieser Mischung sehr treffend: "[...] Beschwörung der verklungenen alten Zeiten höfischer Galanterie mit raffinierten Mitteln einer neuen Musik. Und zugleich eine Reverenz vor den Clavecinisten des 17. Jahrhunderts, die Debussy später immer wieder als wahre Vorbilder für die französische Musik preist." (1)


1. Satz: Prélude

Der Beginn des Prélude beginnt in wunderschön barocker Atmosphäre. Und doch ist es keine Barockmusik, sondern Debussy. Woran liegt das? Betrachten wir dazu das 1. Thema (Takt 1-6).

Notenbeispiel 1: Prélude, 1. Thema, Takt 1-6
Prélude, 1. Thema, Takt 1-6

Was ist an den Takten 1 bis 6 barock?

Da ist zuerst einmal der Impetus, mit dem der Satz beginnt. Man denkt unwillkürlich an eine barocke Orchestersuite und hört die festlichen Bläser und die Pauken, die den ersten Takt von der tiefen Achtelschlägen bis zum mehrstimmigen Akkord anstimmen.

Auch die stark figurierte Melodie mit einer durchlaufenden Sechzehntelbewegung ist hier zu nennen. An Takt 5 und 6 kann man sehr schön die barocke Polyphonie erkennen. Vier Stimmen (Sopran, Alt, Tenor und Bass) laufen gleichberechtigt nebeneinander her. Dabei haben alle ihren eigenen Melodieverlauf.

Notenbeispiel 2: Prélude, 1. Thema, Takt 5-6, Polyphonie
Prélude, 1. Thema, Takt 5-6

In denselben Takten findet man eine harmonische Wendung, die geradezu archetypisch für barocke Musik genannt werden kann: einen Quintfall. Bei dieser harmonischen Wendung, bewegen sich die Basstöne im Abstand von Quinten nach unten - im folgenden Notenbeispiel farbig markiert. Die dazu gehörende Stufenfolge der F-Dur-Tonleiter wäre IV - VII - III - VI - II - V - I. Somit wird die F-Dur-Tonleiter bei diesem Quintall einmal komplett durchlaufen.

Notenbeispiel 3: Prélude, 1. Thema, Takt 5-6, Quintfall
Prélude, 1. Thema, Takt 5-6


2. Satz: Menuet

Einem kurzen, graziösen, nur zweitaktigen 1. Thema

Notenbeispiel 4: Menuet, 1. Thema, Takt 1-2
Menuet, 1. Thema, Takt 1-2

wird ein zweites, kantables, lang ausschweifendes Thema gegenüber gestellt.

Notenbeispiel 5: Menuet, 2. Thema, Takt 26-34
Menuet, 2. Thema, Takt 26-34


3. Satz: Clair de lune

Der 3. Satz Clair de lune (Mondschein) trägt den Titel eines Gedichts aus Paul Verlaines Gedichtband "Fêtes galantes", der 1869 veröffentlicht worden war. Debussy vertonte das Gedicht "Clair de lune" als Lied und es ist anzunehmen, dass er es auch als Anregung zur Klavierversion verwendet hat.

Clair de lune

Votre âme est un paysage choisi
Que vont charmants masques et bergamasques
Jouant du luth et dansant et quasi
Tristes sous leurs déguisements fantasques.

Tout en chantant sur le mode mineur
L'amour vainqueur et la vie opportune
Ils n'ont pas l'air de croire à leur bonheur
Et leur chanson se mêle au clair de lune,

Au calme clair de lune triste et beau,
Qui fait rêver les oiseaux dans les arbres
Et sangloter d'extase les jets d'eau,
Les grands jets d'eau sveltes parmi les marbres.

Formal kann man unschwer eine ABA'-Form mit angehängter Coda feststellen.

Teil Takte Thema Tonart
A Takt 1-26 1. Thema Des-Dur
B Takt 27-50 2. Thema Des-Dur, cis-Moll (des-Moll), Des-Dur
A' Takt 51-65 1. Thema Des-Dur
Coda Takt 66-72 Sechzehntelbegleitung und Themenfragmente des 2. Themas Des-Dur

Stilistisch ist Clair de lune im Zwischenbereich zwischen spätromantischer und frühimpressionistischer Harmonik angesiedelt. Durchweg romantisch ist die grundsätzliche Anwendung der Kadenzharmonik mit den Erweiterungstönen wie Sexten, Septimen oder vereinzelten Nonen, aber auch das Vorkommen von Dominant-Tonika-Verbindungen (Takt 8/9 oder Takt 26/27), die Debussy später tunlichst vermeidet.

Charakteristisch für Debussy ist das Schwebende, das Debussy in den ersten acht Takten durch die hohe Lage, also das Fehlen der Bassregion erreicht. Dadurch sind auch die Grundtöne der Akkorde nicht vorhanden, die normalerweise im Bass liegen. Alle Akkorde sind also Umkehrungen. Zusätzlich bewegen sich die Töne der Melodie und der Begleitakkorde bei ihrer Fortschreitung nur minimal, meist in kleinen oder großen Sekunden, ab und zu eine Terz - eine perfekte klangliche Umsetzung des langsam ziehenden Mondes und des fahlen Mondlichts, das von vorbeiziehenden Wolkenfetzen immer wieder leicht eingetrübt wird.

Notenbeispiel 6: Clair de lune, 1. Thema, Takt 1-8
Clair de lune, 1. Thema, Takt 1-8

Weitere Merkmale der kommenden Debussyschen Tonsprache sind die Tonart Des-Dur, wie Ges-Dur eine Tonart, die für Debussy Wärme darstellt und die er vornehmlich für langsame, zarte und poetische Kompositionen verwendet (zum Beispiel La fille aux cheveux de lin). Charakteristisch ist auch der rhythmisch unbestimmte, schwebende Beginn mit vielen Überbindungen. In der ganzen achttaktigen Melodie wird kein einziges Mal die betonte Zählzeit "1" gespielt; diese findet sich nur in den Begleitakkorden. Dazu kommen immer wieder Duolen, also die Verwendung von zwei Achteln statt der drei Achtel, die im 9/8-Takt normalerweise gruppiert werden (Takt 3). Auch die zarte Dynamik (pianissimo und mit Dämpfer zu spielen) finden wir sehr oft bei Debussy.

Das 2. Thema entwickelt sich fortspinnungsartig. Es zieht sich durch den ganzen Teil B, und damit über 24 Takte, schraubt sich dabei immer mehr in die Höhe, drängt nach vorne und erlebt eine dynamische Steigerung mit dem Forte-Höhepunkt in Takt 41, bevor es wieder abebbt und in das 1. Thema übergeht.

Notenbeispiel 7: Clair de lune, 2. Thema, Takt 27-34
Clair de lune, 2. Thema, Takt 27-34

Begleitet wird das 2. Thema von durchlaufenden, meist aufsteigenden Sechzehntelfiguren, die bis in den Teil A' weitergeführt werden, dort dann aber mehr oder weniger auslaufen.

Bei der Reprise in A' wird das 1. Thema eine Oktave höher als in A gespielt. A' ist mit nur 15 Takten um einiges kürzer als A. Die angehängte Coda übernimmt mit den Sechzehntelfiguren und Ausschnitten des 2. Themas wieder musikalisches Material des B-Teils.


4. Satz: Passepied

Der 4. Satz wirkt simpel, ist aber ein kunstvoll montiertes Geflecht von motivischen und thematischen Beziehungen. Eine Fülle von Motiven oder Themen, die sich alle aufeinander beziehen, durchzieht den Satz. Dabei überwiegen Zwei- und Viertakteinheiten, die sofort wiederholt und dann weitergeführt werden. Das Hauptmotiv des Satzes ist eine vier Takte lange Melodie, einem Vordersatz gleichend, der dann mit verschiedenen Nachsätzen ergänzt wird.

Notenbeispiel 8: Passepied, Hauptthema, Vordersatz, T. 3-6
Passepied, Hauptthema, Vordersatz, T. 3-6

(1) Strobel, Heinrich. Claude Debussy. Zürich, 1940, S. 84.

Kontakt

  © 2023 by Jochen Scheytt

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Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.