Kanope
aus: Préludes Band II, Nr. 10
1. Was sind Kanopen?
2. Welchen Bezug hatte Debussy zu Kanopen?
3. Wie geht Debussy mit dieser Inspiration um?
4. Welche melodische Figuren bestimmen das Bild und
wie lassen sie sich deuten?
5. Was lässt sich zur Harmonik sagen?
6. Welche musikalischen Elemente verweisen auf die
Vergangenheit?
Canope ist eines der getrageneren, stimmungsvollen Préludes, das in seiner musikalischen Gestaltung aber einige Rätsel aufgibt. Zwar ist durchaus klar, was sich hinter dem Titel verbirgt, was genau sich Debussy aber bei der Komposition vorgestellt haben mag, ist nicht so einfach nachzuvollziehen. Doch zuerst zu den Fakten.
Bei Kanopen handelt es sich um altägyptische Grabgefäße. Bei der Mumifizierung wurden die Eingeweide entnommen und in vier Kanopen separat beigesetzt. Jede dieser Kanopen hatte ab dem Mittleren Reich einen Deckel in Form eines Kopfs, der je einen der vier Söhne des Gottes Horus symbolisierte. Diese sollten dem Verstorbenen auch im Jenseits Schutz bieten. Jeder dieser Horussöhne stand für ein bestimmtes Organ: Amset für die Leber, dargestellt als Mensch; Hapi für die Lunge, dagestellt als Pavian; Duamutef für den Magen, dargestellt als Falke; und Kebehsenuef für den Darm, dargestellt als Schakal (im Bild von links nach rechts).
Kanopenkrüge aus dem Grab des Iti 19. Dynastie, um 1200 v.u.Z Kalkstein, Ägyptisches Museum Berlin,
Photo: Nina Aldin Thune
Im Maison Natale Claude Debussy in St. Germain-en-Laye sind einige der Gegenstände ausgestellt, die Debussy auf seinem Schreibtisch ständig um sich hatte. Dazu gehören auch die Deckel zweier Kanopen, beide mit menschlichen Antlitzen. Wo er diese erworben hatte, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Der Besitz der Kanopen ist allerdings Ausdruck einer allgemeinen Begeisterung für alles Orientalische, die nicht nur Debussy, sondern viele Künstler der Belle Èpoche erfasst hatte. Hierzu zählt allerdings nicht nur der vordere Orient, sondern auch Asien.
Man darf sich unter der Musik - wie bei vielen der Préludes - nun keine bildliche Umsetzung des Grabgefäßes als solches vorstellen. Robert Schmitz hat dies vielleicht am besten in Worte gefasst, wenn er schreibt, dass Debussy nicht das Gefäß selbst, sondern die Stimmung, die das Objekt verströmt und seine persönlichen Reaktionen auf diese Serie von Assoziationen beschreibt. Wie in einem Traum, so Schmitz, erweckt er eine antike Prozession zum Leben, getragen und ruhig und durchdrungen von einer würdevollen, sanften und schicksalsergebenen Traurigkeit. (1) Auch Siglind Bruhn sieht im Beginn "das feierliche Schreiten in einer Prozession, die die sterblichen Überreste eines Menschen zu Grabe trägt" (2).
Der Beginn besitzt tatsächlich eine besondere Magie und es fällt nicht schwer, sich eine traumgleiche Prozession vorzustellen: Träger, die langsamen Schrittes, einen Sarg tragend, einen weihevollen Raum durchschreiten, den Sarg vorsichtig abstellen (Takt 4), und sich dann wieder gemessenen Schrittes aus dem Raum entfernen (Takt 5 und 6).
Notenbeispiel 1: Canope, Beginn, Prozessionsthema, T. 1-7
Nach diesem klaren Beginn mit reinen Dreiklängen in gleichmäßiger Rhythmik stellt sich der weitere Verlauf des Préludes als differenzierter und komplexer heraus und scheint sich einer direkten Interpretation zu entziehen. Nun bestimmen zwei melodische Figuren und lang ausgehaltene Sext-, Sept- und Septnonakkorde das Bild. Am Ende erscheint das Prozessionsthema in leicht variierter Form wieder (Takt 26-30), gefolgt von der zweiten melodischen Figur, die hier wie eine bloße Reminiszenz erscheint. Das Ende ist harmonisch und rhythmisch offen.
Mit den beiden melodischen Figuren (Motiv 1 und 2, siehe Notenbeispiel 3 und 4) beginnt ab Takt 7 eine neue, völlig anders gestaltete Welt. Man kann dies am Übergang erkennen, bei dem beide Welten quasi miteinander verschwimmen. Es ist wie ein Abtauchen in eine andere Bewusstseinsebene, wie wenn die Erinnerungen die Oberhand über die Realität gewinnen, Bilder vorbeiziehen und Gedanken fließen. Debussy gestaltet dies in Takt 7 durch die Überlagerung des Anfangsthemas (im Notenbeispiel 2 blau) mit dem Beginn des ersten Motivs (rot) und dem lange ausschwingenden D7-Akkord (grün) in den Begleitstimmen. Hier ist es vor allem die Gegenüberstellung des Tons c1 mit dem cis1 des ersten Motivs, eigentlich eine scharfe Dissonanz, die hier die Grenze zwischen bewusst und unterbewusst symbolisiert.
Notenbeispiel 2: Canope: Übergang, Takt 5-8
Beide Motive sind in rhythmischer Hinsicht purer Debussy: rhythmisch unbestimmt, da sie nicht auf Schlag eins beginnen, und sich durch Überbindungen, Synkopen und eine unregelmäßigen Kombination verschiedenster Notenwerte auszeichnen.
Das erste der beiden Motive ist beim ersten Auftreten in Takt 7 und 8 vollständig chromatisch. Der melodische Verlauf ist zuerst aufsteigend, dann wieder absteigend, verbunden mit einer sich steigernden und abklingenden Dynamik. Das Motiv endet auf längeren Notenwerten, läuft also aus. Es wird sofort wiederholt, wobei die Melodie bei der Wiederholung am Ende aufsteigt.
Notenbeispiel 3: Canope: erstes Motiv, Takt 7-8
Das zweite Motiv ist dorisch, bzw. benutzt Töne aus der d-Moll-Tonleiter. Auch hier steigt das Motiv zuerst nach oben, um dann eine kleine Sext tiefer auf dem Ton d zu enden. Am Ende wird der Tonschritt vom e zum Zielton d durch einen chromatischen Durchgang (Ton es) ausgefüllt. Dieses Motiv wird nach einem Verbindungstakt identisch wiederholt.
Notenbeispiel 4: Canope: zweites Motiv, Takt 11-12
Beide Motive transportieren durch ihre großteils fallenden Melodielinien und die Vorschläge Traurigkeit und Resignation. Werden Sie ins Klangpedal genommen (was bei einem Instrument ohne mittleres Pedal notwendig ist, um die Akkorde wie vorgeschrieben klingen zu lassen), bekommen die Melodien etwas Unwirkliches, Verwischtes und Schemenhaftes, wie eine ferne Erinnerung an den Verstorbenen.
Siglind Bruhn äußert in ihrem Buch die Idee, dass das erste der beiden Motive um "eine Art Klagegesang" handelt, "von einem Priester vorgetragen und von der Gemeinde leicht abgewandelt wiederholt." (3) Das könnte durchaus Sinn machen, erinnern die Repetitionen des Tons cis und die sich in Halbtonschritten nur minimal bewegenden Melodie doch an rituelle kirchliche Gesänge. Ob diese Konkretisierung allerdings dem Charakter des Prélude entspricht, sei dahingestellt.
Aber nicht nur die Melodik geht auf Distanz zum Beginn, auch die Harmonien wenden sich von reinen Dur- und Molldreiklängen zu erweiterten Vierklängen (D7 in Takt 7, Es7 in Takt 13, Gm6 in Takt 11, G6 in Takt 12), Fünfklängen (F7(9) in Takt 14 auf Schlag 3) und ganztönigen Akkorden (Takt 18, 20 und 22). Viele dieser Akkorde setzt Debussy in weiter Lage, also mit großen Abständen zwischen den einzelnen Tönen.
Notenbeispiel 5: Canope: Takt 11
Das ergibt sehr ausgewählte, spezielle Klangwirkungen, so dass selbst ein reiner C-Dur-Akkord mit hinzugefügter None als atmosphärischer Klang wahrgenommen wird. Mit diesem Klang beendet Debussy auch das Prélude.
Notenbeispiel 6: Canope: Takt 14 und 30-34
Die meisten Akkorde werden auf dem ersten Schlag des Taktes angespielt und klingen lange aus. Dies hat den britischen Pianisten Paul Roberts dazu veranlasst, das Prélude in die Nähe der javanischen Gamelanmusik zu rücken (4) (zur Gamelanmusik siehe Pagodes), bei der genau wie hier die tiefen Gongs lang ausschwingende Töne besitzen und die Musik in den höheren Lagen immer kleinteiliger organisiert ist. Doch was hat die Musik des fernen Java mit altägyptischen Begräbnisriten zu tun? Oder noch anders gefragt, vertont Debussy hier überhaupt altägyptische Riten? Folgt man Robert Schmitz' Ansatz einer Traumvision, dann sind geographische Details sowieso nicht relevant und es geht Debussy mehr um die Evokation eines fernen, altertümlichen Ritus, der irgendwo und überall angesiedelt sein könnte.
Insofern benutzt Debussy einige archaisierende musikalische Elemente, ähnlich wie in anderen Kompositionen, die vergangene Zeiten beschwören, wie bei La Cathédrale engloutie aus dem ersten Band der Préludes. Hierzu gehören die Verwendung der dorischen Kirchentonart in den ersten sieben Takten und am Schluss, sowie die häufige Verwendung der reinen Intervalle Quart und Quint, sowohl im dorischen Prozessionsthema, als auch in den Akkorden ab Takt 7.
(1) Schmitz, E. Robert. The Piano Works of Claude Debussy. Dover Publications, 1966, S. 182. Im
Original: "He is not describing the funeral urn for us, but the mood evoked by the object and his personal
reactions to this series of associations. [...] As in a dream he evokes antique processionals, stately,
calm, permeated by a diginified, gentle, and resigned sadness."
(2) Bruhn, Siglind. Debussys Klaviermusik und ihre bildlichen Inspirationen. Waldkirch, 2017, S.
190.
(3) Ebda.
(4) Roberts, Paul. Images : The Piano Music of Claude Debussy. Amadeus Press, 1996.
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