Seite 1 - Entstehung, Uraufführung und Titel
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Pagoden sind fernöstliche turmartige Tempelbauten mit mehreren aufeinandergebauten, nach oben sich verjüngenden Dächern, die in ganz Asien zu finden sind. Hier werden die Pagoden als Sinnbild für die Musik Javas, dem heutigen Indonesien, eingesetzt - die Musik, die Debussy bei den Pariser Weltausstellungen von 1889 und 1900 kennenlernte und die ihn so begeisterte.
Chinesische Pagode in den Kew Gardens, London
Aus Java waren Gamelanorchester nach Paris gekommen, die typischen Ensembles dieser Region. Sie brachten in Europa bisher ungehörte Instrumente, Klänge und Strukturen zu Gehör, die Debussy in Pagodes nachahmt.
Gamelanorchester bestehen typischerweise aus verschiedenen Gong- und Metallplattenspielen, helleren Stabplattenspielen, Gongs und Trommeln. Sie spielen mit Tonsystemen, bei denen im Gegensatz zu unserem europäischen System die Oktave nicht in acht, sondern in fünf Intervalle eingeteilt ist. Es werden hauptsächlich zwei verschiedene Skalen, Slendro und Pelog, verwendet, die sich das europäische Ohr als pentatonische Skala oder Ganztonleiter zurechthört.
Typisch ist auch die Struktur dieser Musik. Vereinfacht kann man sagen, dass die tiefen Instrumente lange Töne spielen und somit eine Art Fundament legen, die mittleren Instrumente mäßig bewegte Figuren spielen, während die hellen, hohen Instrumente die schnellsten Bewegungen ausüben.
Ganz grundsätzlich kann man sagen, dass Debussy die Mehrschichtigkeit und die charakteristischen Bewegungsformen der Gamelanmusik übernimmt. Pagodes besitzt minimal eine und maximal vier gleichzeitig ablaufende Schichten, in den meisten Takten sind es allerdings drei. Die vier Schichten sind folgendermaßen gestaltet:
Schon in den beiden Anfangstakten gibt Debussy die wichtigsten Merkmale vor. Hierin finden sich mit den Tönen h, fis und gis drei Töne der das Stück beherrschenen H-Dur-Pentatonik (h, cis, dis, fis, gis). Auch das Intervall der großen Sekund (in der obersten Stimme: fis1 und gis1), das über weite Strecken präsent ist, wird hier schon vorgestellt. Auch ist die dreischichtige Struktur von tiefen, mittleren und hohen Instrumenten schon gut zu erkennen. In der tiefsten Schicht geben Akkordschläge auf die "1" des Taktes die metrische Orientierung für die restlichen Stimmen.
Notenbeispiel 1: Pagodes, Takte 1 und 2
Schließlich kann man, wenn man möchte, auch optisch pro Takt eine Pagode in Notenbild erkennen.
Notenbeispiel 2: Pagodes, Takt 1 und 2, Pagode im Notentext
Nach dieser zweitaktigen Einleitung findet sich in den Takten 3 und 4 in der obersten Schicht ein pentatonisches Motiv (Figuration 1), das sich in vielen Varianten und mit wenigen Ausnahmen durch das ganze Stück hindurchzieht. Dieses soll die hellen Gamelaninstrumente mit den schnellen Bewegungen darstellen.
Notenbeispiel 3: Pagodes, Figuration 1, Takt 3 und 4: Originalmotiv
Figuration 2 folgt ab Takt 23, in rhythmischer Variation in Achteltriolen und Achtelnoten.
Notenbeispiel 4: Pagodes, Figuration 2, Takt 23 und 24, Achtel und Triolen
Die in Quarten und Quinten verlaufende Figuration 3 von Takt 27 ff. beinhaltet die ersten fünf Töne des Originalmotivs in der Unterstimme, sowohl in der Abwärts-, als auch in der Aufwärtsbewegung (rot markiert).
Notenbeispiel 5: Pagodes, Figuration 3, Takt 28 in Quarten und Quinten
Bei der Figuration 4 ab Takt 37 wird die bisher zweitaktige Figur auf den ersten Takt reduziert und dabei rhythmisch diminuiert. So dauert sie hier statt einem ganzen Takt nur noch einen halben Takt und wird darum gleich wiederholt. Durch die Diminution tritt der ornamentale Charakter stärker hervor.
Eine Diminution ist eine Halbierung der Notenwerte eines Motivs oder Themas. Aus ganzen Noten werden demnach Halbe, aus Halben Viertel, usw. Das Gegenteil ist die Verdoppelung der Notenwerte, die Augmentation.
Notenbeispiel 6: Pagodes, Figuration 4, Takt 37, rhythmisch diminuiert
Schließlich lässt sich auch die rasend schnelle Figuration 5 des Schlussteils ab Takt 78 von diesen ersten fünf Tönen herleiten. Beginnend mit den Ton ais, der im Originalmotiv nicht vorkommt, werden die ersten fünf Töne des Originalmotivs zuerst abwärts, dann aufwärts gespielt (rot markiert). Dabei fehlt bei der Abwärtsbewegung das dis, aufwärts das cis. Das Originalmotiv von Takt 3 und 4 wird ab Takt 81 in der Mittelstimme dazu gespielt.
Notenbeispiel 7: Pagodes, Figuration 5, Takt 80: Schnelle Figuration zusammen mit Ursprungsmotiv
In dieser Mittelschicht finden sich die verschiedenen melodischen Elemente der Pagodes, die hier der Einfachheit halber als Themen bezeichnet werden. Sechs dieser Themen, die alle in der für Debussy typischen Reihungstechnik aufeinander folgen, kann man finden. Eingebettet sind diese Themen in die Großform ABA'.
Die Themen sind im Einzelnen:
Thema A ist eigentlich nur eine stufenweise auf- und absteigende Linie in Achteln, wie sie typisch für Stabplattenspiele ist. Die Tonalität ist H-Dur/gis-Moll.
Notenbeispiel 8: Pagodes, Takt 7: Thema A
Thema B ist pentatonisch und kommt in einer im dritten und vierten Takt des Themas leicht variierten Variante ab Takt 19 noch einmal vor.
Notenbeispiel 9: Pagodes, Takt 11: Thema B
Thema C benutzt ausschließlich die schwarzen Tasten am Klavier, ist somit also pentatonisch. Durch die beiden halben Noten zu Beginn und die farbigen Begleitakkorde unterscheidet sich das Thema deutlich von den vorherigen.
Notenbeispiel 10: Pagodes, Takt 15: Thema C
Thema D erinnert in seiner Gestaltung der ersten beiden Takte an Thema B. Es ist eigentlich ein zweitaktiges Thema, das durch Wiederholung der drei letzten Viertel von Takt 2 und deren variierter Wiederholung auf vier Takte ausgedehnt wird. Auch dieses Thema ist pentatonisch mit ausschließlicher Verwendung der schwarzen Tasten.
Notenbeispiel 11: Pagodes, Takt 27: Thema D
Thema E bringt mit dem Ton eis eine neue Klangfarbe. Die Töne des Themas sind der Fis-Dur-Tonleiter entnommen, klanglich ist das Thema aber eher in der gis-Moll-Sphäre anzusiedeln. Es besitzt durch die beiden Sechzehntelmotive einen figurierteren und lebendigeren Charakter als die vorherigen Themen. Die Takte 3 und 4 des Themas stellen eine nicht intervallgetreue Umkehrung der ersten beiden Takte des Themas dar.
Notenbeispiel 12: Pagodes, Takt 33: Thema E
Thema F kehrt wieder in die H-Dur-Pentatonik zurück. Es ist das einzige Thema, das eine dynamische Steigerung erfährt. Es stellt mit seiner Wiederholung ab Takt 41 im fortissimo auch den dynamischen Höhepunkt der Pagodes dar.
Notenbeispiel 13: Pagodes, Takt 39: Thema F
In der folgenden Grafik wird dargestellt, wie die Themen auf die Großform ABA'Coda verteilt sind.
Grafik: Pagodes, Formablauf: Großform und Themen
Auffallend ist dabei:
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