1. Worum geht es?

Es geht um die alte bretonische Legende der versunkenen Stadt Ys, die im 4. oder 5. Jahrhundert wegen der Pietätlosigkeit und des unmoralischen Lebenswandels ihrer Bewohner im Meer versank.

Die sagenumwobene, in der Bucht von Duarnenez in der Bretagne gelegene Stadt Ys wurde von großen Fluttoren vor den Fluten des Atlantik geschützt. Den goldenen Schlüssel zu den Toren bewahrte König Gradlon bei sich auf. Im Laufe der Jahre kam die Stadt zu immensem Reichtum, der die Bewohner zu einem immer ausschweifenderen Lebenswandel verleitete. Auch die Tochter des Königs Gradlon, Dahut, ließ sich davon anstecken und ließ sich auf einen fremden Liebhaber ein. Dieser Liebhaber, der sich als der Satan persönlich entpuppen sollte, überredete die Königstochter, ihrem Vater den Schlüssel zu stehlen und ihn ihm auszuhändigen. Kaum im Besitz des Schlüssels öffnete der Teufel in einer Sturmnacht die Tore und die Stadt versank in den Fluten des Atlantik. Der König Gradlon konnte sich nur mit Hilfe des heiligen Gwenolé auf einem Pferd retten, musste aber dafür seine Tochter den Fluten übergeben.

Debussy und ChouChou
Evariste-Vital Luminais: Die Flucht des Königs Gradlon. Musée des Beaux-Arts, Quimper

Die verschiedenen Versionen der Legende unterscheiden sich teilweise erheblich. Verschieden erzählt wird, wie die Stadt erbaut wurde und wie sie zu ihrem immensen Reichtum kam. Auch die Sturmnacht, in der die Stadt in den Fluten versinkt, und die Rettung von König Gradlon wird unterschiedlich erzählt. Allen Erzählungen gleich ist jedoch, dass der König für seine Rettung seine Tochter Dahut opfern muss.

Auch heute noch soll der Sage nach Dahut, ihr langes blondes Haar kämmend, den Fischern in Mondnächten als Sirene erscheinen. Oft wird auch erzählt, dass die Stadt bei Sonnenaufgang als mahnendes Beispiel aus dem Meer auftaucht. Außerdem sollen an klaren, windstillen Tagen die Fischer die Glocken der untergegangenen Stadt hören.

2. Welche Elemente der Legende kann man in der Musik wiederfinden?

Das Prélude stellt natürlich keinen Handlungsablauf in dem Sinne dar, sondern evoziert mit seinen Klängen bestimmte Stimmungen, Vorgänge oder Elemente aus der Legende. Debussy konzentriert sich in seinem Prélude auf die Darstellung der Kathedrale der Stadt Ys. Die Glocken der Kathedrale sind dabei ein zentrales Element, das im ganzen Prélude zu hören ist. An zentraler Position (Takt 28 ff.) findet sich ein mächtiges, wie eine Orgel klingendes Thema, das am Ende des Prélude in einer tiefen, wie unter Wasser klingenden Version noch einmal wiederkehrt. Ein weiteres, sanft fließendes Thema (Takt 7 ff.) könnte den Gesang der Mönche oder der Priester darstellen.

Man interpretiert sicher nicht zu viel in die Musik hinein, wenn man sich folgenden Ablauf vorstellt:

  • Beginn: Die Glocken der Kathedrale klingen von fern.
  • Ab Takt 18: Die Kathedrale steigt unter lauter werdendem Glockengeläut aus den Fluten auf.
  • Ab Takt 28: Die Kathedrale ist aus den Fluten aufgetaucht, die Orgel spielt in vollem Register.
  • Ab Takt 72: Die Kathedrale ist hinabgesunken, das Orgelthema klinget unter Wasser weiter, ist aber nur noch eine von tiefem Wasser umspülte Erinnerung an die einstige Größe
  • Takt 84 bis Schluss: Die fernen Glocken des Anfangs beenden das Prélude.

3. Welche Bedeutung hat der erste Takt des Prélude?

Der erste Takt des Prélude ist von zentraler Bedeutung, denn hier (Notenbeispiel 1) findet sich die Keimzelle, aus der Debussy alle Themen entwickelt, mit denen er die versunkene Kathedrale musikalisch beschreibt. Es sind zum einen mehrere Glockenschläge, wobei der erste auf Schlag 1 mit seiner sehr hohen Lage in der Oberstimme und tiefen Lage in der Bassstimme besonders charakteristisch ist. Bei allen Zusammenklängen handelt es sich um archaisierende, terzlose Akkorde. Somit bestehen alle Akkorde nur aus Quarten, Quinten und Oktaven. Dies ist ein ganz deutlicher Rückbezug auf die Zeit des Mittelalters, als die frühen kirchlichen Gesänge in parallelen Quarten und Quinten verliefen. Auch in Takt 1 werden wie beim mittelalterlichen Quart- und Quintorganum die fünf dem ersten Glockenschlag folgenden Schläge exakt parallel verschoben.

Notenbeispiel 1: "La Cathédrale engloutie", Takt 1
Cathedrale engloutie Takt 1

Schließlich ist in diesem ersten Takt das Hauptmotiv (Glockenmotiv) zu finden, aus dem alle melodischen Gestalten von La Cathédrale engloutie entwickelt werden (Notenbeispiel 2, rot markiert). Dieses aus drei Viertelnoten bestehende Motiv steigt zuerst eine große Sekunde und dann eine Quinte nach oben. Im weiteren Verlauf von La Cathédrale engloutie wird aus dem zweiten Intervall (der Quinte) oft auch eine Quart.

Notenbeispiel 2: "La Cathédrale engloutie", Takt 1
Cathedrale engloutie Takt 1

Im 1. Thema ab Takt 7 kommt das Glockenmotiv dreimal vor (Notenbeispiel 3, rot markiert), in diesem Fall in der Variation mit der Quarte:

Notenbeispiel 3: "La Cathédrale engloutie", Takt 7 bis 13, Thema, vereinfacht
Cathedrale engloutie Takt 7-13

In Takt 14 und 15, einer Fortspinnung des Anfangstaktes (Notenbeispiel 1 und 2), findet sich das Glockenmotiv zweimal im Original und zweimal in einem Krebs, einer vertikalen Spiegelung:

Notenbeispiel 4: "La Cathédrale engloutie", Takt 14 bis 15, Glockenmotiv
Cathedrale engloutie Takt 14-15

Von Takt 18 bis 27, der großen Steigerung hin zum Orgelthema, wird das Glockenmotiv insgesamt 13 mal wiederholt, in den letzten Takten kontrastiert durch an kleine Glocken erinnernde absteigende Tonleiterausschnitte in gleichmäßigen Viertelnoten, bis schließlich in Takt 28 das Orgelthema mit ebendiesem Glockenmotiv beginnt.

4. Wodurch wird das Orgelthema gekennzeichnet?

Notenbeispiel 5: "La Cathédrale engloutie", Takt 28 ff., Orgelthema
Cathedrale engloutie Orgelthema

Die große Orgel der Kathedrale wird durch einige für Orgeln charakteristische Elemente zum Leben erweckt. Zuerst ist das die orgeltypische Vollgriffigkeit in beiden Händen beim Spiel in vollem Register. Auch der tiefe, gleichbleibende Basston, ein Orgelpunkt, der bei einer Orgel mit den Füßen gespielt wird und die parallele Führung der Oberstimmen wie in der Art von Mixturklängen sind orgeltypisch. Mixturen bei der Orgel sind Pfeifen, die an Tasten gekoppelt werden und in diesem festgelegten Intervallabstand immer mitklingen. Die Akkorde werden aber nicht komplett parallel verschoben, sondern bleiben in ihrer Tonart (hier: C-Dur) verhaftet. So ergibt sich ein Wechsel von Dur- und Mollakkorden, die alle mit den Tönen der C-Dur-Tonleiter erzeugt werden können, also leitereigen sind.

Notenbeispiel 6: "La Cathédrale engloutie", Takt 28 ff., Orgelthema
Cathedrale engloutie Orgelthema

5. Wie wird der Unterwassereffekt hergestellt?

Ab Takt 72 erklingt das Orgelthema ein weiteres Mal, aber dieses Mal wie ein Echo, wie eine bloße Erinnerung. Debussy schreibt in den Noten: comme un écho de la phrase entendue précédemment - wie ein Echo der zuvor gehörten Phrase. Aber es ist wohl noch mehr als eine dynamisch ins pianissimo getauchte Wiederholung. Das Orgelthema ist hier eine Oktave tiefer und wird begleitet von einer in die tiefsten Töne des Klaviers reichenden Achtelfigur (tiefster Ton ist das Kontra-C). Dies ergibt einen Effekt, wie wenn das Thema undeutlich und verschwommen unter Wasser klingen würde (Debussy schreibt vor: flottant et sourd - schwimmend und dumpf).

Notenbeispiel 7: "La Cathédrale engloutie", Takt 72 ff., Orgelthema, Echo
Cathedrale engloutie Orgelthema Echo, Takt 72 ff.

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  © 2023 by Jochen Scheytt

Die deutschen Debussy-Seiten sind der umfangreichste Überblick über Debussys Leben und Schaffen in deutscher Sprache im Internet.

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.