Seite 1 - Entstehung, Uraufführung und Titel
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Im Jahr 1895, also acht Jahre vor Debussy hatte sich Maurice Ravel schon mit der andalusischen Thematik beschäftigt und ein Klavierstück veröffentlicht, das durchaus als Vorbild für Debussys Soirée dans Grenade gedient haben dürfte: die Habanera aus den Sites auriculaires für zwei Klaviere. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Stücken sind deutlich, so dass man Debussy vorwarf, Ravel plagiiert zu haben. Obwohl dieser Streit gar nicht von Ravel ausgegangen war, entzweite er die beiden Komponisten, die zuvor eine lockere Freundschaft gepflegt hatten.
Hauptstreitpunkt ist der Habanera-Rhythmus, der die rhythmische Basis beider Stücke bildet. Nun hat der Habanera-Rhythmus als solcher seinen Ursprung in der spanischen Musik und die pure Verwendung desselben kann keinem Komponisten als Plagiat vorgeworfen werden. Deshalb geht es um die Frage, wie diese kurze rhythmische Figur verwendet wird. Und genau da gibt es erstaunliche Parallelen zwischen beiden Werken. Debussy schreibt die Figur über weite Teile von "Soirée dans Grenade" auf nur einem einzigen Ton, meist dem cis3. Tritt der Habanera-Rhythmus alleine auf, wird meist ein weiterer Ton als Begleitung hinzugenommen, wie zu Beginn und auch am Ende das cis4 (Notenbeispiel 1). Dies stellt eine ziemlich ungewöhnliche Verwendung dieses Grundrhythmus dar.
Notenbeispiel 1: Claude Debussy: "La Soirée dans Grenade", Habanera-Rhythmus, Takt 5
Bei Ravel findet sich exakt dieselbe Grundidee. Auch er hatte den Habanera-Rhythmus in ähnlicher Weise auf genau diesem cis komponiert (die punktierte Achtel auf Schlag 1 fehlt meist, wie in Notenbeispiel 2) und über fast die ganze Komposition beibehalten - allerdings auch in einer rhythmisch etwas komplexeren Variante mit Achteltriolen und Überbindungen.
Notenbeispiel 2: Maurice Ravel: "Habanera", Habanera-Rhythmus, Takt 9
Eine große Ähnlichkeit besteht auch bei einem weiteren charakteristischen Motiv, das bei beiden Stücken vorkommt. In rhythmischer Hinsicht wird dieses Motiv von einer Achteltriole geprägt, die der Achtelpunktierung und der Sechzehntel des Habanera-Rhythmus gegenübergestellt wird. Bei beiden Stücken steigt die Melodie der Achteltriole stufenweise nach oben, um dann kurz zur Ruhe zu kommen und zuerst auf einer höheren Tonstufe und dann auf einer tieferen Stufe neu anzusetzen - bei Debussy drei- und bei Ravel insgesamt viermal. Auffallend ist bei beiden Stellen der mehrstimmige, eng geführte akkordische Satz, der meist aus Septakkorden besteht und bei dem die Ober- und Unterstimme in Oktaven geführt werden. Bei Debussy ergibt sich aus den Septakkorden und dem cis des Habanera-Rhythmus ein ganztöniges Feld.
Notenbeispiel 3: Maurice Ravel: "Habanera", triolisches Motiv, T. 30-35
Notenbeispiel 4: Claude Debussy: "La Soirée dans Grenade", triolisches Motiv, T. 23-28
Purer Zufall? Absicht? Ein eher unbewusstes Plagiieren immerhin acht Jahre nach Ravels Stück, das Debussy nachgewiesenermaßen kannte? Man kann es heute nicht mehr eruieren. Debussy jedenfalls stritt das bewusste Plagiat zeit seines Lebens ab und wies immer wieder darauf hin, dass man seiner Habanera Unrecht tue, wenn man sie auf die Ähnlichkeiten mit Ravels Vorläufer reduziere.
In der Tat besitzen beide Komponisten eine sehr individuelle, nicht miteinander zu vergleichende Tonsprache - auch wenn beide für gewöhnlich unter dem Label "Impressionisten" vereint werden. So sind Ravels Harmonien in seiner Habanera um einiges dissonanter, die Klangwirkungen schärfer und schroffer als bei Debussys Soirée dans Grenade. Auch die rhythmische Komplexität ist bei Ravel höher als bei Debussy.
Hinzu kommt, dass Ravels Habanera mehr oder weniger in einem Gefühlszustand verharrt, wohingegen Debussy den durchgängigen Charakter der Soirée dans Grenade immer wieder bewusst erweitert oder bricht - sei es durch Bereiche wie das A-Dur-Thema (T. 38 ff.) oder die Episode in Fis-Dur (T. 67 ff.), die sich aus der tonartlichen Unbestimmtheit des restlichen Stücks lösen und einen neuen klanglichen Charakter schaffen. Oder durch abrupte gitarren- und kastagnettenähnliche Einschübe - "Musikfetzen", die von irgendwoher sozusagen herüberwehen und genau so schnell verschwinden, wie sie gekommen sind. All dies gibt Debussys Soirée dans Grenade eine weitere Dimension, die Ravels Habanera nicht bietet.
Bei aller Unterschiedlichkeit ist es in gewisser Weise natürlich, dass sich beide mit ähnlichen Themen beschäftigten. Beide lebten im Paris der Belle Époque, ein Hotspot der damaligen Kunstavantgarde, in dem sie den gleichen kulturellen Einflüssen ausgesetzt waren. Wie sollten sie da nicht bei der Wahl ihrer Sujets zu ähnlichen Inspirationen greifen? Zu diesen gehörten neben der spanischen Musik auch der asiatische Kulturkreis, alt-französische Traditionen, die Welt der Kinder, Wasser und literarische Texte des Symbolismus.
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